Inzwischen ist Heleen Murre-van den Berg eine weltweit anerkannte Spezialistin auf dem Gebiet des Christentums im Nahen Osten. In der Laudatio bei der Preisübergabe am Dies academicus hiess es: «Sie benutzt und kombiniert in ausgezeichneter Weise philologische, literarische, historische, theologische und kulturwissenschaftliche Methoden.» So vielseitig ihre Herangehensweise, so auch die Themen, zu denen Murre-van den Berg im Zusammenhang mit Christen im Nahen Osten publiziert. So befasst sie sich beispielsweise mit dem syrischen Christentum, das seine Wurzeln in Syrien und Mesopotamien des 2. und 3. Jahrhunderts hat, speziell in Gegenden, wo anstelle von Griechisch Aramäisch gesprochen wurde. Heute leben syrische Christen im Irak, im Iran, in Syrien, in Ägypten, der Türkei, im Libanon und in der Diaspora in Europa und den USA. Murre-van den Berg beschäftigt sich in ihrer Forschung speziell mit der Sprache, Schreibpraktiken, Literatur, Identität und Nationalismus sowie rituellen und religiöse Praktiken. Auch der Austausch zwischen Christen im Westen und im Nahen Osten interessiert sie, ebenso wie die Diaspora von syrischen Christen.
«Fakten sind immer nur die eine Hälfte»
Murre-van den Berg unternimmt viele Reisen in die Region. Sie sagt: «Mich interessiert der Zusammenhang zwischen der historischen Forschung und der aktuellen Situation. In meiner Forschung findet immer auch eine Reflexion darüber statt, was jetzt gerade passiert.» Sie findet, dass der Kontakt zu den Menschen vor Ort unabdingbar ist, dass eine rein akademische Perspektive nicht genügt. «Schon als Studentin hatte ich die Gelegenheit mit meinem Doktorvater, der enge Kontakte pflegte, in die Communities zu gehen», fährt sie fort und sagt: «Man muss die Orte sehen und zuhören, wie die Menschen über ihre Geschichte sprechen. Man muss verstehen, wie die Menschen sich selber innerhalb ihrer eigenen Geschichte positionieren.» Und man müsse sich auch immer bewusst sein, was man selbst mitbringe und dass es immer verschiedene Arten gäbe, die Welt zu betrachten und zu interpretieren: «Fakten sind immer nur die Hälfte einer Geschichte, die man erzählt. Wichtig ist doch, dass man aufzeigt, woher die Quellen stammen und wie man zu seinen Schlüssen gelangt.»
Die aktuelle Situation in Syrien bereitet ihr Sorgen. Natürlich habe die Religion eine grosse Auswirkung darauf, entlang welchen Grenzen die Gesellschaft organisiert sei. Sie ist aber auch überzeugt, dass oftmals erst der Krieg diese Gliederung kreiere und verhärte. Sie beschreibt, dass in vielen Gebieten vor dem Krieg die Gemeinschaften sehr durchmischt waren. «Besonders tragisch finde ich, dass rund 100 Jahre nach dem Genozid an den syrischen Christen diese Menschen bereits wieder vertrieben werden.» Sie erzählt, dass es den Christen im Nahen Osten ab den 1950er Jahren recht gut ging, sie ein geschätzter Teil vieler Gemeinschaften waren, sie aber gleichzeitig dennoch immer mehr marginalisiert und an den Rand gedrängt wurden bis zur Kulmination mit den Zerstörungen und Gräueltaten des IS. Und sie ist froh, mit ihrer Forschung etwas beitragen zu können zur Bewahrung des kulturellen Erbes.
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