Ein Abend mit Slavoj Žižek

Als erster Gast im Rahmen der «Distinguished Lectures Series 2017» des Walter Benjamin Kolleg kam der slowenische Philosoph Slavoj Žižek am Freitag, 26. Mai an die Universität Bern. Das Publikum wurde nicht enttäuscht – sein Vortrag zum Thema «The Ethics of Christian Atheism» war unterhaltsam, provokant und manchmal verwirrend.

Von Ivo Schmucki 31. Mai 2017

Slavoj Žižek zieht die Massen an. Ursprünglich hatte man für den Vortrag des Philosophieprofessors einen Raum mit 150 Sitzplätzen reserviert. Schliesslich hält er aber sein Referat in der berstend vollen Aula des Uni-Hauptgebäudes und der ursprünglich angedachte Hörsaal wird als Zusatzraum für einen Livestream genutzt. Auch dieser Raum ist voller Leute. «Boy was I wrong» – Junge, was lag ich falsch, war der Kommentar von Thomas Claviez, der Slavoj Žižek vor seinem Vortrag vorstellt. Selbst er, der für das Walter Benjamin Kolleg bereits zum siebten Mal die Distinguished Lectures Series organisiert, hat noch nie einen solchen Publikumsaufmarsch erlebt – nicht einmal als im Jahr 2013 die berühmte feministische Theoretikerin Judith Butler an der Universität Bern zu Gast war.

Slavoj Žižek und Thomas Claviez diskutierten bereits vor dem Referat angeregt miteinander. Alle Bilder: © Universität Bern
Slavoj Žižek und Thomas Claviez diskutierten bereits vor dem Referat angeregt miteinander. Alle Bilder: © Universität Bern

Das Toilettenpapier geht zur Neige

Der Redner wird den Erwartungen des Publikums gerecht – er beginnt mit etwas, das er gut kann: Witzige Geschichten erzählen. Eine davon handelt von Žižeks Jugend in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Damals sei plötzlich ein Gerücht aufgekommen, wonach es fast kein Toilettenpapier mehr auf dem Markt gebe. Die Leute hätten darauf relativ rational reagiert, kaum jemand habe dem Gerücht Glauben geschenkt und es sei auch tatsächlich genügend Toilettenpapier vorhanden gewesen. «Aber viele Leute haben sich gedacht: Was, wenn die anderen denken, dass das Gerücht wahr ist? Dann gibt es Hamsterkäufe und das Toilettenpapier wird wirklich knapp. Also kauften sie trotzdem vorsorgehalber Toilettenpapier ein – was dann tatsächlich zu einer Knappheit von Toilettenpapier führte.» Mit diesem Beispiel zeigt Slavoj Žižek eine paradoxe Situation auf: Man braucht nicht an etwas zu glauben, um das soziale Handeln trotzdem danach zu richten.

Mit seinen Geschichten unterhält er das Publikum: Slavoj Žižek.
Mit seinen Geschichten unterhält er das Publikum: Slavoj Žižek.

Gläubige ohne Glauben

Die Toilettenpapiergeschichte führt Žižek direkt zu einem seiner Lieblingsthemen: Der Ideologie. Wir seien in vielerlei Hinsicht «believers without belief» – Gläubige ohne Glauben. Das trifft auch auf ihn selber zu, denn er sieht sich selber als einen Vertreter des christlichen Atheismus. Bei dieser Ethik verhält es sich im Grundsatz ähnlich: Rationalität steht gläubigem sozialen Handeln gegenüber. Zwar handle man ethisch, doch gänzlich ohne sein Handeln von einem «grossen Anderen» abhängig zu machen. «Der Tod Jesu am Kreuz ist der atheistischste Akt überhaupt. Er bedeutet, dass das Spiel vorbei ist. Was bleibt ist der Heilige Geist. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist auf sich gestellt», erklärt Slavoj Žižek mit viel Pathos. Für christliche Atheisten gäbe es keine höhere Autorität und somit auch keine göttliche Erlösung mehr. Nur wir selbst könnten unserem Dasein einen Sinn geben und seien für unser Leiden immer selbst verantwortlich.

Vorbestimmte Freiheit

Was folgt, ist etwas, das Žižek ebenfalls gut kann: er holt lange aus und wirft viele Fragen auf. Slavoj Žižek spricht von Protestantismus und von Psychoanalyse und erklärt, warum das eine und das andere durchaus Gemeinsamkeiten haben. An seine nervösen Tics beim Sprechen und an seine manchmal sprunghafte Argumentation gewöhnt man sich mit der Zeit. Er kommt auch auf das Prinzip der Freiheit zu sprechen. Die «Patisserie-Freiheit», bei der man sich einfach das aussuchen könne, was einem am liebsten ist, gebe es nicht. «Die wirklich freien Entscheidungen sind nur diejenigen, die uns als absolut unumgänglich vorkommen», sagt Žižek. Somit erscheine Freiheit immer als das Gegenteil davon. Man kenne das aus der romantischen Liebe: «Man weiss es einfach, wenn man jemanden liebt und muss alles dafür tun, diese Person für sich zu gewinnen.»

Mache fanden keinen Sitzplatz mehr in der Aula.
Mache fanden keinen Sitzplatz mehr in der Aula.
Und auch auf der Empore ist mehr als jeder Platz besetzt.
Und auch auf der Empore ist mehr als jeder Platz besetzt.

Diese Art von Freiheit, die uns nicht als solche erscheine, kenne man im Protestantismus als Vorbestimmung. Sie komme immer in schwierigen Situationen zum Vorschein, was Slavoj Žižek an einem Beispiel illustriert. Er zeigt eine Szene aus dem dänischen Film A Conspiracy of Faith, in der ein Serienmörder einen Polizisten und zwei Kinder gefangen hält. Der Serienmörder behauptet von sich selbst, ein Sohn des Teufels zu sein und erachtet es als seine Aufgabe, den Glauben der Menschen zu zerstören. Um dem Polizisten die Abwesenheit oder Untätigkeit Gottes zu beweisen, beginnt er eines der Kinder vor seinen Augen zu ertränken. Der Polizist versichert dem Mörder, dass er nicht gläubig sei und deshalb durch den Tod des Kindes den Glauben gar nicht verlieren könne. Er bittet sein Gegenüber, statt dem Kind ihn umzubringen.

Ein Ausschnitt aus «A Conspiracy of Faith».
Ein Ausschnitt aus «A Conspiracy of Faith».

Wo ist die Religion?

Slavoj Žižek behauptet nun, dass die Situation aus dem Film genau eine Situation ist, in der «Gott» eben nicht ab-, sondern anwesend war in der scheinbar unumgänglichen Entscheidung des Polizisten. In der Extremsituation entscheidet sich der Polizist dafür, christlich zu handeln und bietet sich selbst als Opfer an. «Aber wo ist hier die Religion?», fragt Žižek ins Publikum. «Um wahrhaft gläubig zu werden, muss man den Tod Gottes überleben. Die wahre christliche Ethik kommt erst dann zum Vorschein, wenn man diesen Punkt der unendlichen Resignation durchschreitet», schliesst Slavoj Žižek. Sei dieser Punkt einmal überwunden, handle man im Sinne der Glaubensgemeinschaft ethisch.

Selfies mit dem Entertainer

Nach dem Vortrag folgen Fragen aus dem Publikum. In einer halben Stunde beantwortet Slavoj Žižek drei. Er tut dies in seiner gewohnten Art: Er holt aus, schweift ab, kehrt zur Frage zurück, beantwortet einiges, lässt vieles offen und endet manchmal ganz woanders. Für seine unterhaltsame Rhetorik ist Žižek berühmt, wird aber auch häufig kritisiert. Heute scheint ihm das kaum jemand übel zu nehmen. Es wird viel gelacht und man nimmt für ein Selfie oder Autogramm die Wartezeit in der Schlange in Kauf.

Nach dem Vortrag ist Žižek ein gefragter Mann.
Nach dem Vortrag ist Žižek ein gefragter Mann.

Zur Person

Slavoj Žižek ist Professor für Philosophie und Psychoanalyse an der European Graduate School (EGS) in Saas-Fee, Senior Researcher am Institut für Soziologie und Philosophie an der Universität seiner Heimatstadt Ljubljana, Global Distinguished Professor of German an der New York University und International Director des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London sowie Gründer und Präsident der Society for Theoretical Psychoanalysis, Ljubljana.

Er gilt als einer der bedeutendsten Philosophen in der Tradition von G.W.F. Hegel, Karl Marx und Jacques Lacan, und ist Verfasser von über 40 Büchern. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehören First as Tragedy, then as Farce (2009), The Parallax View (2006), The Plague of Fantasies (1997) und The Sublime Object of Ideology (1989).

Das Walter Benjamin Kolleg

Das Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern bündelt Forschungsaktivitäten der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern. In inter- und transdisziplinären Projekten arbeiten Doktorierende, Junior Fellows und andere Nachwuchsforschende an Grundfragen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Reihe Distinguished Lectures Series lädt jeweils drei renommierte Forscherinnen und Forscher zu einem klar umrissenen Thema ein. 

Zum Autor

Ivo Schmucki ist Hochschulpraktikant Corporate Communication an der Universität Bern.

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