Dolmengrab – die Steinzeitmenschen unter dem Findling

Ein zufällig entdecktes Dolmengrab von 40 Menschen in Oberbipp enthält einzigartige Funde und kann Aufschluss geben über Verwandtschaftsverhältnisse und Ernährungsgewohnheiten der Steinzeitmenschen sowie Migrationsbewegungen aus dem Nahen Osten. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Buch am Mittag» der Universitätsbibliothek stellte Sandra Lösch, Leiterin Anthropologie am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern, die neusten Forschungsresultate vor.

Von Karl Zimmermann 16. Mai 2017

Im Oktober 2011 durfte Roman Obi als Geschenk zu seinem bevorstehenden zwölften Geburtstag mit dem Bagger jene Granitplatte ins Visier nehmen, die das Mähen in Grossvaters Obstgarten in Oberbipp immer schon behindert hatte. Der junge Maschinist konnte nicht ahnen, dass er buchstäblich der «Spitze des Eisbergs» auf der Spur war: Zum Vorschein kam nämlich ein gewaltiger Findling, der als Deckstein eines Dolmengrabs diente.

Dr. Sandra Lösch, Leiterin Anthropologie am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern, kennt die bisher neuesten Forschungsresultate zu dieser sensationellen archäologischen Entdeckung und stellte sie am Dienstag, 9. Mai vor vollen Rängen anlässlich der Veranstaltungsreihe «Buch am Mittag» in der Bibliothek Münstergasse vor.

An ihrem Vortrag über das Dolmengrab von Oberbipp erklärte die Anthropologin und Biochemikerin Sandra Lösch das Grabungsvorgehen und die bisherigen Fundergebnisse. (Foto: Elio Pellin, Universitätsbiblithek)
An ihrem Vortrag über das Dolmengrab von Oberbipp erklärte die Anthropologin und Biochemikerin Sandra Lösch das Grabungsvorgehen und die bisherigen Fundergebnisse. (Foto: Elio Pellin, Universitätsbiblithek)

Rettungsgrabung in Oberbipp

Die erstaunliche Freilegung des 7.5 Tonnen schweren Granitblocks aus den Moränen des späteiszeitlichen Rhonegletschers versprach weitere unerwartete Überraschungen an der Steingasse in Oberbipp. Der Archäologische Dienst des Kantons Bern ADB erkannte sogleich die ausserordentliche Bedeutung des Fundplatzes, der in der Folge vom Februar bis Dezember 2012 im Rahmen einer Rettungsgrabung gründlich untersucht wurde, zumal die betreffende Landparzelle in der Bauzone liegt und schon bald einmal überbaut werden soll.

Archäologische Profilschnitte säumen die grosse Grabanlage von Oberbipp. (© Marianne Ramstein, Archäologischer Dienst des Kantons Bern)
Archäologische Profilschnitte säumen die grosse Grabanlage von Oberbipp. (© Marianne Ramstein, Archäologischer Dienst des Kantons Bern)

Zutage trat eine fast drei Quadratmeter grosse, trapezförmige Grabkammer, deren Seitenwände aus je einem Paar tragender Granit- bzw. Gneisfindlinge bestanden. Zwei stelenartige Gneisblöcke flankierten zudem den Eingangsbereich des mit lokalen Kalksteinplatten gepflasterten Grabmonuments. Die ganze Anlage wurde wohl mehrmals überflutet, in seitliche Schräglage gebracht und im Schuttkegel des nahen Mühlebachs einsedimentiert, so dass sie aus dem Blickfeld entschwand und aus diesem Grund überhaupt bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist.

Vermeidung von fremden DNA-Spuren

Im Innern der etwa 1 Meter hohen Steinkammer türmten sich unzählige menschliche Skelettteile. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsgrab, dessen anspruchsvolle Freilegung nach Entfernung der imposanten Überdachung ab Juli 2012 von einem achtköpfigen Team unter Leitung der Anthropologin und Biochemikerin Sandra Lösch bewältigt wurde. «Die aufwändige Dokumentation und die heikle Bergung der Knochenreste erforderten höchste Konzentration und Sorgfalt und fanden ausnahmsweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt», erklärte Lösch. Vor allem sollte mit Grabungszelt, Handschuhen und Mundschutz jede Kontamination mit fremden DNA-Spuren vermieden werden, um die künftige wissenschaftliche Auswertung nicht zu verfälschen. 

Nach Entfernung des wuchtigen Dolmendachs öffnet sich der Blick auf das Innere der ursprünglich ganz mit Skelettresten angefüllten Grabkammmer. (© Marianne Ramstein, Archäologischer Dienst des Kantons Bern)
Nach Entfernung des wuchtigen Dolmendachs öffnet sich der Blick auf das Innere der ursprünglich ganz mit Skelettresten angefüllten Grabkammmer. (© Marianne Ramstein, Archäologischer Dienst des Kantons Bern)

Die führenden Schweizer Steinzeitforscher wurden an den «Tatort» ins 1500-Seelen-Dorf am Jurasüdfuss eingeladen, um die wissenschaftlichen Fragestellungen und die praktischen Vorkehrungen zum Schutz von Funden und Befunden zu besprechen. Im Verhältnis zur Masse der Skelettfragmente fällt die Anzahl der Grabbeigaben recht bescheiden aus: Ans Tageslicht kamen neun Pfeilspitzen, ein Silexmesser, eine Meeresschnecke, eine Steinperle und sechs Schmuckanhänger aus Tierzähnen, die knapp in die Mitte des 4. Jahrtausends v.Chr. datiert werden können. Der Dolmen von Oberbipp bereichert somit den kleinen Bestand an vergleichbaren Kollektivgräbern aus dem Spätneolithikum (3500-2800 v.Chr.) im schweizerischen Mittelland.

Neben diesen archäologischen Ergebnissen bleiben zum Dolmengrab von Oberbipp noch viele brennende Fragen offen, deren Beantwortung von Seiten der Humanbiologie und Anthropologie weiterhin eine Riesenarbeit voraussetzt: Welche Skelettteile gehören zusammen, wie viele Verstorbene fanden in Oberbipp ihre letzte Ruhestätte, wie lauten die Alters- und die Geschlechtsverhältnisse, wie lässt sich der allgemeine Gesundheitszustand der Oberbipper Urbewohner beurteilen, welche Krankheiten, Beeinträchtigungen und Abnützungserscheinungen von harter körperlicher Arbeit können an den Knochenresten nachgewiesen werden, welche biochemischen Labormethoden stehen künftig zur Verfügung, um ein immer ganzheitlicheres Bild der Steinzeitmenschen von Oberbipp nachzeichnen zu können?

Viele Skelettteile von Kindern

Zumindest einige dieser Fragen vermochte Sandra Lösch in ihrem Vortrag zu beantworten: Im Dolmengrab von Oberbipp wurden nacheinander mindestens 40 Individuen zur letzten Ruhe gebettet, obwohl nur 31 Schädel erhalten geblieben sind. Die Nachbestattungen wurden jeweils mit dem Kopf zum Eingangsbereich in gestreckter Rückenlage auf die Skelette der früher Verstorbenen gelegt, die bei diesem Zugriff teilweise durcheinandergebracht worden sein könnten. Vier andere Störzonen lassen sich wohl auf Fuchsbauten zurückführen. «Dokumentiert sind ein Neugeborenes und ein relativ hoher Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen, die mit einem Anteil von über einem Drittel fast zwei Dritteln Erwachsenen gegenüberstehen», so Lösch. Das Zahlenverhältnis von Frauen und Männern ist ziemlich ausgeglichen, was laut Referentin am ehesten für einen Familienclan als Eigentümer und Benützer des Gemeinschaftsgrabs spricht. Wie aus Analysen von Knochenproben nach der 14C-Methode hervorgeht, lässt sich rund die Hälfte der Skelette in einen relativ engen Zeitraum um 3300 v.Chr. einordnen, so dass sich die Frage stellt, ob nicht ein bestimmtes todbringendes Ereignis dahinter stehen könnte. An pathologischen Erscheinungen sind bisher verschiedene Knochenfrakturen wie ein verheilter Oberarmbruch, eine Infektion am Unterschenkel sowie eine Silexpfeilspitze im Oberkiefer eines Individuums nachgewiesen, die zweifellos auf externe Gewalt hindeutet.

Warten aufs biochemische Speziallabor

Für die Beantwortung der vielen weiterführenden Fragen suchte Sandra Lösch die Zusammenarbeit mit dem renommierten deutschen Biochemiker Dr. Johannes Krause, der als Honorarprofessor an der Universität Tübingen und seit 2014 als Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena tätig ist. 2014 wurde ein auch in der Schweiz breit abgestütztes interdisziplinäres Forschungsprojekt beim Schweizerischen Nationalfonds eingereicht, das inzwischen bereits erfolgreich angelaufen ist. Die Anthropologin wartet auf ein biochemisches Speziallabor, das im grossen Neubau an der Murtenstrasse 24 in Bern eingerichtet wird und in dem künftig unter höchsten Schutzanforderungen an DNA-Sequenzen, mit dem Protein Kollagen und dem Mineral Apatit, dem Grundbaustein beim Aufbau von Knochengewebe und Zahnschmelz, geforscht werden soll. Die Referentin erhofft sich dabei nicht nur die Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse und ein besseres Verständnis der Ernährungsgewohnheiten der Steinzeitmenschen von Oberbipp, sondern auch Aufschlüsse über die damaligen Migrationsbewegungen aus dem Nahen Osten nach Mitteleuropa.

Rekonstruktion des Steinzeitgrabs zwischen Kirche und Friedhof in Oberbipp. (© Marianne Ramstein, Archäologischer Dienst des Kantons Bern)
Rekonstruktion des Steinzeitgrabs zwischen Kirche und Friedhof in Oberbipp. (© Marianne Ramstein, Archäologischer Dienst des Kantons Bern)

DAS DOLMENGRAB VON OBERBIPP

Das rund 5500 Jahre alte Gemeinschaftsgrab von Oberbipp wurde im Gelände zwischen Kirche und Friedhof rekonstruiert und am 26. Oktober 2014 im Beisein der Dorfbevölkerung feierlich eingeweiht. Eine Besichtigung ist jederzeit möglich.

ZUR PERSON

Dr. Sandra Lösch hat Biologie mit Hauptfach Anthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) studiert. Seit 2010 ist sie Leiterin der Abteilung Anthropologie am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern, Schweiz. Sandra Lösch betreut SNF-geförderte Projekte über die Menschen der Ur- und Frühgeschichte und des Mittelalters. Ihr Team bearbeitet menschliche Überreste von archäologischen Ausgrabungen aus verschiedenen Kantonen und aus dem Ausland.

DAS INSTITUT FÜR RECHTSMEDIZIN (IRM)

Das Institut für Rechtsmedizin (IRM) Bern führt hauptsächlich im Auftrag der Staatsanwaltschaft Untersuchungen durch. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen der Rechtspflege und tragen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit bei. Gewisse Dienstleistungen des Instituts können aber auch von anderen Behörden, Spitälern, Ärzten und in Ausnahmefällen von Privatpersonen genutzt werden. Die einzelnen Abteilungen des IRM verfügen über unterschiedliche Forschungsschwerpunkte. Die Abteilung Anthropologie bearbeitet wissenschaftliche Fragestellungen zur Bevölkerungszusammensetzung, Krankheitsbelastung sowie Ernährung, soziale Stratifizierung und Herkunft von Populationen.

BUCH AM MITTAG

Die Veranstaltung fand statt in der Reihe «Buch am Mittag» der Universitätsbibliothek Bern. Jeweils Dienstags von 12.30 bis 13 Uhr werden im Veranstaltungssaal der Bibliothek Münstergasse Vorträge gehalten. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

ZUM AUTOR

Der Archäologe Dr. Karl Zimmermann arbeitete bis zur Pensionierung 2005 als Konservator/Redaktor in der Abteilung Archäologie am Bernischen Historischen Museum in Bern.

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