Anderen helfen - zum eigenen Nutzen

Wie kann altruistisches Verhalten durch natürliche Selektion entstehen, wenn Geber und Empfänger nicht miteinander verwandt sind? Ein von Forschenden der Universität Bern herausgegebener Sonderband der «Philosophical Transactions of the Royal Society» gibt Antworten darauf, die der vorherrschenden Lehrmeinung zur Evolution von Kooperation widersprechen.

Von Michael Taborsky 12. Januar 2016

Vampirfledermäuse spenden einander Blut, Buntbarsche verhandeln Bleiberecht gegen Dienstleistungen, Ratten verschaffen sich gegenseitig Futter – die Bandbreite gegenseitiger Hilfe im Tierreich ist gross. Vielfach wird derlei Altruismus gegenüber unverwandten, dem Helfer mitunter auch unbekannten Artgenossen gezeigt. Dies läuft herkömmlichen Vorstellungen über die Evolution von Kooperation und Altruismus entgegen. Seit Willam Hamilton’s wegweisenden Arbeiten zur Evolution des Altruismus vor mehr als 50 Jahren gilt Verwandtenselektion – die Ausbreitung altruistischen Verhaltens auf dem Wege gezielter Förderung von Verwandten – als die biologische Erklärung für aufopferungsvolles Verhalten gegenüber Artgenossen.

Kooperation ohne Vorteile für Verwandte

Molekulargenetische Verwandtschaftsbestimmung erlaubt jedoch inzwischen, die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse von Kooperationspartnern aufzuklären. Dabei zeigte sich, dass altruistische Hilfe oft auch unverwandten Sozialpartnern entgegengebracht wird. Im Widerspruch zu Hamilton’s Theorie findet man sogar mitunter, dass Verwandtschaft Kooperation hemmt, anstatt sie zu fördern. Wenn Vampirfledermäuse anderen einen Teil einer reichlichen Mahlzeit abgeben, tun sie das öfter gegenüber Artgenossen, mit denen sie nicht verwandt sind, aber stattdessen gegenseitigen 'Blutspendehandel' betreiben. Miteinander nicht-verwandte Feldwespen gründen gemeinsam ein Nest, in dem nur das dominante Weibchen Junge produziert, die von subdominanten Nestgenossinnen aufgezogen werden. Bei vielen Vogelarten ziehen Gruppenmitglieder Junge auf, mit denen sie nicht verwandt sind. Ostafrikanische Buntbarsche helfen einander in höherem Mass, wenn sie nicht miteinander verwandt sind. Unverwandte Paviane unterstützen sich in Rangstreitigkeiten, wenn sie als Gegenleistung vom Sozialpartner gelaust werden. Die Menge an Beispielen, die systematische Kooperation zwischen nicht-verwandten Sozialpartnern widerspiegeln, liesse sich beliebig erweitern.

Vampirfledermaus im Flug
Vampirfledermaus im Flug © Uwe Schmidt, Wikimedia Commons
Die Grafik zeigt, welche Faktoren Einfluss auf die "Blutspende" der Vampirfledermaus haben. Vampirfledermäuse spenden Blut, das sie auf nächtlichen Streifzügen sammeln, bevorzugt bedürftigen Sozialpartnern, die ihnen selbst bereits Blut gespendet bzw. ihr Fell gepflegt haben. Verwandtschaft zwischen Geber und Empfänger ist hingegen von untergeordneter Bedeutung.
Vampirfledermäuse spenden Blut, das sie auf nächtlichen Streifzügen sammeln, bevorzugt bedürftigen Sozialpartnern, die ihnen selbst bereits Blut gespendet bzw. ihr Fell gepflegt haben. Verwandtschaft zwischen Geber und Empfänger ist hingegen von untergeordneter Bedeutung. © Michael Taborsky, «Social Evolution: Reciprocity There Is», Current Biology Vol 23 No 11, 2013.

Ein Sonderband der renommierten englischen Fachzeitschrift «Philosophical Transactions of the Royal Society London» widmet sich nun ganz diesem Thema: wie können Kooperation und Altruismus zwischen nicht-Verwandten vor dem Hintergrund Darwin’scher Evolutionsprinzipien erklärt werden? Dies scheint – nebenbei bemerkt – ein angemessenes Thema zu sein für diese älteste wissenschaftliche Zeitschrift der Welt: 1665 erschien das erste Heft der Philosophical Transactions, die im Verlauf der Zeit die heute allgemeingültigen Prinzipien wissenschaftlichen Publizierens entwickelt haben. Viele bedeutende Gestalter unseres naturwissenschaftlichen Weltbilds – wie Isaac Newton, Michael Faraday und, natürlich, auch Charles Darwin – haben in den letzten 350 Jahren in dieser Zeitschrift publiziert.

Paradigmenwechsel oder Sturm im Wasserglas?

Die Botschaft dieses Sonderbands ist brisant: die 17 darin enthaltenen Artikel zeigen anhand empirischer und theoretischer Befunde auf, dass die Theorie der Verwandtenselektion bei weitem nicht ausreicht, um altruistisches Verhalten in der Natur erklären zu können. Aus dem menschlichen Sozialverhalten Wohlbekanntes, wie gegenseitiger Austausch und Handel von Gütern und Dienstleistungen, hat seine Wurzeln bereits im Verhalten von Insekten, Fischen, Vögeln, Fledermäusen und Affen. Viele der erstaunlichsten Sozialleistungen gehen dabei auf das Prinzip der Gegenseitigkeit zurück. Das Konzept des 'reziproken Altruismus' wurde von Robert Trivers zwar bereits vor über vierzig Jahren entwickelt, jedoch bislang als im Tierreich für unbedeutend erachtet, da die erforderlichen Kontrollmechanismen als zu anspruchsvoll galten. Man hielt die mentalen Fähigkeiten des Menschen für unabdingbar und  traute neuronal und kognitiv 'einfacher organisierten' Organismen diese Leistungen einfach nicht zu.

Wie schon oft, wenn man das Verhalten nicht-menschlicher Organismen zu deuten versuchte, hat man sich aber auch hier gehörig getäuscht. Dies liegt nicht zuletzt an der naïven, anthropozentrischen Vorstellung, dass die tierischem Verhalten zugrundeliegenden psychologischen und kognitiven Mechanismen denjenigen des Menschen gleichen müssen, um ähnliche Leistungen hervorzubringen. Können Tiere also «Buch führen» darüber, wer ihnen zuvor welche Gunst erwiesen hat? Sind derartige Fähigkeiten aber überhaupt vonnöten, wenn die Handlungsanweisung «wie du mir, so ich dir» («tit for tat»)  angewendet wird?

Was für die Befolgung dieser Regel benötigt wird, umfasst individuelles Erkennen und die Erinnerung an das Verhalten eines Sozialpartners, sowie an die Konsequenzen dieses Verhaltens für den eigenen Nutzen oder Schaden. Genau diese Komponenten sind aber Voraussetzung vieler Interaktionen zwischen Artgenossen. Wenn Tiere zum Beispiel im Wettstreit um Nahrung einem Gruppenmitglied unterliegen, respektieren sie dessen Rang in zukünftigen Auseinandersetzungen und machen ihm sein Futter nicht mehr streitig. Sie verbinden also die Kenntnis individueller Identität mit der Erinnerung an das Verhalten des Sozialpartners und dessen Konsequenzen (Ressourcenverlust), um zukünftige Entscheidungen zu treffen. Nichts weiter wird benötigt, wenn Tiere miteinander reziprok kooperieren.

Kaninchenfische am australischen Barriereriff schieben füreinander Wache, während sich der Partner jeweils auf den Nahrungserwerb konzentriert. Da dieser anschliessend die Wächterrolle übernimmt, ergibt sich für beide Partner eine 'win-win Situation' - die Fitnesseffekte ihres Handelns sind dabei ähnlich miteinander korreliert, wie diejenigen unter Verwandten. © Jordan M. Casey, Bild aus Simon J. Brandl & David R. Bellwood, «Coordinated vigilance provides evidence for direct reciprocity in coral reef fishes», Scientific Reports, 5:14556.

Biologische Märkte, Reputation und Betrug

Die Artikel dieses Bandes erörtern verschiedenste Möglichkeiten, wie kooperatives Verhalten evolvieren kann, wenn die Nutzniesser altruistischer Hilfe nicht mit den Helfern verwandt sind. Dieser Fall ist nicht nur innerhalb von Arten weit verbreitet, sondern auch zwischen ihnen – denken wir an die vielen Formen von Symbiosen, die den Erfolg kooperativer Beziehungen eindrucksvoll belegen. Im vorliegenden Band wird die Funktionsweise gegenseitigen Verhandelns und von Entscheidungskriterien, die von marktähnlichen Strukturen wie Angebot und Nachfrage abhängen, ebenso untersucht wie die Bedeutung betrügerischen Verhaltens als potenzielle Hemmschwelle für die Ausbreitung altruistischer Tendenzen. Die meisten grundlegenden Mechanismen sind hierbei nicht auf die menschliche Ebene beschränkt, sondern finden ihre eigene Ausprägung in mannigfaltiger Form auch im Tierreich. Viel kann man aus dieser Vielfalt an Lösungen der selben Probleme lernen, wenn man die Wurzeln menschlicher Kooperation – und ihres Erfolges – verstehen will. Letztere ist offenbar nicht einem «Quantensprung» in unserer evolutiven Geschichte geschuldet, sondern einer Kombination verschiedenster Möglichkeiten, die bereits in unseren ferneren und näheren Vorfahren und Verwandten angelegt sind. Auf dieser Basis können «typisch menschliche» Mechanismen wie Reputation, Bestrafung von Trittbrettfahrern und die Wirkung von Institutionen den Umfang an Kooperation erzeugen, der letztendlich unseren im Vergleich mit anderen Arten beeindruckenden Erfolg ausmacht.

Im Juli 2005 hat das renommierte Wissenschaftsjournal «Science» die 25 brennendsten Fragen für die Entwicklung unseres wissenschaftlichen Weltbilds definiert, die die Forschung im nächsten Vierteljahrhundert beschäftigen wird. Die Evolution kooperativen Verhaltens gehörte dazu. 10 Jahre später ist es an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Es sieht danach aus, also ob die Behandlung dieses Themas in eine sehr dynamische Phase geraten sei. Ob dieser Band der Philosophical Transactions dabei einen Paradigmenwechsel abbildet, wird sich zeigen. In jedem Fall enthält er ein breitgefächertes, alternatives Angebot zur vorherrschenden Lehrmeinung, um die Funktionsweise und Evolution von Kooperation und Altruismus in einem breiten Kontext verstehen zu lernen.

Zur Person

Michael Taborsky ist seit 2000 Professor am Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern und leitet den Lehrstuhl für Verhaltensökologie. Nach dem Biologiestudium an der Universität Wien arbeitete er am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen und am Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, bevor er nach mehreren Forschungsaufenthalten in verschiedenen europäischen Ländern und in Neuseeland an die Universität Bern berufen wurde. Seine Forschung beschäftigt sich mit der adaptiven Funktion tierischen Verhaltens. Schwerpunkte sind Kooperation und Konflikt, konsistente Verhaltensdiversität, Alternative Fortpflanzungsstrategien, und die Evolution von Sozialstrukturen.

Kontakt

Prof. Dr. Michael Taborsky
Abteilung Verhaltensökologie
Institut für Ökologie und Evolution
Wohlenstrasse 50a
CH-3032 Bern

Telefon direkt: +41 31 631 9156
E-Mail: michael.taborsky@iee.unibe.ch
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