Sommerserie: Versuch einer Antwort

Gerhild Perl lebt in Algeciras an der südlichen EU-Aussengrenze, wo Migrantinnen und Migranten von Marokko her übers Meer kommen. Sie trifft die Gestrandeten und sucht die Spuren der Toten. Reflexionen über einen Forschungsaufenthalt an der Grenze.

Von Gerhild Perl 11. August 2015

Joseph, Mamadu, Dorothee und ich sitzen an einem Tisch in ihrer Wohnung in Spanien, zwei Menschen schlafen auf einer Matratze im selben Raum, wir essen Brei aus Maismehl mit Huhn und Gemüse und sie erzählen von Nigeria, Kamerun und dem Senegal, von ihrem Leben in den Wäldern Marokkos, von ihrer Ankunft und ihren Enttäuschungen in Spanien. Ich höre zu und notiere. Sie wissen, dass ich von den Toten hören möchte, von jenen, die den Versuch, die EU-Aussengrenze zu überqueren, nicht überlebten. Mamadu schaut an mir vorbei und erzählt von seinem Bruder, der beim Versuch, in die spanische Exklave Ceuta zu schwimmen, einen Krampf im Bein hatte und vom Meer mitgerissen wurde. Seine Stimme wird schwer. Ich habe den Stift längst beiseite gelegt und denke an die Leichtigkeit, mit der ich mich in dieser Welt bewege, ich denke an meinen österreichischen Pass, meinen Schweizer Arbeitsplatz, den letzten Ausflug nach Marokko. Joseph, der die meiste Zeit geschwiegen hat, unterbricht Mamadu und stellt mir die Frage: «What do you do? Exactly.» Er blickt mir in die Augen und ohne eine Antwort abzuwarten, setzt er fort: «And they are paying you for that?» Ich nicke. «Who?» – «The University.» Wir schweigen. Joseph stochert in seinem Essen herum: «Tell them to give money to real people with real problems.»

Daran erinnere ich mich, als ich im Februar dieses Jahres erstmals meinen Aufenthalt in Südspanien unterbreche und für einige Tage zu einem Doktorandenkolloquium zurück in die Schweiz komme. Das für kurze Zeit «nicht mehr dort sein» lässt mich jenes dort aus anderen Augen betrachten und die Frage, wo ich eigentlich bin, wirft ihren eigenen Schatten in Form einer beunruhigenden Antwort auf meinen Berner Schreibtisch.

Das Wort Fiktion huscht durch meinen Körper und ich schreibe die Wörter «real» und «world» auf einen Zettel und denke, dass der Spuk der Fiktion nicht jenes dort sei, sondern es ist das hier der Universität. Das kurz aus dem Feld draussen sein und in den Komfort der akademischen Welt (wieder) eintauchen, fühlt sich wie ein Verrat an den «real people» in der «real world» an.

Eintauchen und Aushalten

Es wäre vereinfachend, die eben formulierte Zweiteilung in eine echte (reale) versus eine fiktive Welt einfach so stehen zu lassen, aber sie ist hilfreich, um die eigenartige Position zu benennen, in der sich eine Ethnographin befindet. Um diese Spannung zu verstehen, spricht der Anthropologe Michael Jackson von zwei unterschiedlichen Formen, ein soziales Feld zu erfahren. Die erste Erfahrung nennt er «from within», die es der Ethnographin verunmöglicht, sich selbst in ihrem Feld ganz zu erkennen und es ihr erschwert abzuwägen, was sie selbst tut und sagt. Ich übersetzte es für mich als ein Eintauchen und Aushalten von Widersprüchen, Unerwartetem und Ohnmacht, als ein intensives Erleben und Mitleben von dem, was sich an einem jeweiligen Forschungsort offenbart.

Das «from without» hingegen tritt ein, wenn die Ethnographin selbst nicht mehr im Feld anwesend ist und rückblickt auf das Gelebte, Gedachte und Empfundene. Jackson betont das Oszillieren der beiden Phänomene als ein Hin-und-her-Wandern zwischen «engagement» und «disengagement».

Blick an der Küste von Tarifa nach Marokko. Der Himmel ist bedeckt, das Wasser dunkel. In der Ferne: Die Umrisse von Bergen, die aus dem Wasser ragen.
Blick nach Marokko von Tarifa. © Bilder: Gerhild Perl

Mein Forschungsfeld ist eine Grenzregion, die drei nationalstaatliche Territorien umfasst: Spanien, Marokko und Grossbritannien (Gibraltar). Ich lebe in einer Region, die an der Strasse von Gibraltar liegt, wo sich zwei mächtige Gewässer vermengen, das Mittelmeer und der Atlantik, eine Region, die von ihren Winden gekennzeichnet ist, dem Levante aus dem Osten und dem Poniente aus dem Westen. Diese Winde bestimmen die alltäglichen Wettergespräche ebenso wie die Entscheidung, ohne Visum mit einem Schlauchboot nach Spanien zu übersetzen oder nicht. Ich wohne in Algeciras, der Name der Stadt leitet sich vom arabischen Al-Jazeera Al-Khadra ab, die grüne Insel.

Strasse in der Stadt Algeciras. Lampen und Palmen säumen die fast menschenleere Allee. Im Hintergrund: Autos, ein ankerndes Schiff, sowie Kräne und Gebäude des Hafens.
In Algeciras

Wenige schaffen es über die Strasse von Gibraltar

Algeciras bildet das westliche Ende einer Bucht, deren östliche Seite von Gibraltar geschlossen wird. Täglich sehe ich den imposanten Fels, an dessen Saum sich die kleine britische Stadt befindet, von der so gerne erzählt wird, dass dort mehr Unternehmen als Einwohner gemeldet sind. Algeciras selbst ist geprägt von seinem Hafen und dem regen Ankommen und Abreisen, kaum jemand verweilt in der Stadt, die meisten reisen weiter nach Marokko oder nach Spanien. Es ist ein Transitort, sowohl für Touristen, die bequem und unproblematisch reisen, als auch für Migrantinnen, von denen sich viele ohne Dokumente, Visum, Sprachkenntnisse und / oder Geld bewegen, immerzu der Gefahr von polizeilichen Kontrollen ausgesetzt.

Im Hafen von Tanger, Marrokko: Eine Kolonne von Lastwagen wartet auf einer Strasse direkt am Meer darauf, verschifft zu werden. Ein Mann in einer grünen Weste steht daneben und schaut ins Meer. Im Hintergrund: Kahle Hügel und Grenzanlagen (Wachtürme, Zäune).
Im Hafen von Tanger, Marrokko.

Fahre ich mit dem Auto in die Stadt, streift mein Blick die Strasse von Gibraltar, um Ceuta zu suchen, und fahre ich weiter in den Westen nach Tarifa, erheben sich die Berge Marokkos und ich sehe den Forêt Benyounes und manchmal kann ich den Hafen von Tanger erkennen. Ich schaue hinüber und weiss, dass Menschen dort nach Spanien schauen – in der Hoffnung, mit einem Schlauchboot, versteckt in einem Lastwagen, einer Fähre, oder mit falschen Dokumenten hinüber zu kommen, wohlwissend, dass Spanien hart von der Wirtschaftskrise getroffen ist. Viele kommen nicht mit dem Wunsch, sich in Spanien ein neues Leben aufzubauen, sondern mit dem Ziel nach Europa zu kommen, das – in der Wahrnehmung vieler – nicht in Spanien, sondern nach den Pyrenäen beginnt. Doch die Grenze ist gut überwacht und Migrationsrouten haben sich verändert. Wenige schaffen es über die Strasse von Gibraltar und viele sind dabei umgekommen.

Das Grab eines unbekannten Flüchtlings: Eine Nische, in die CD-Hüllen und Bücher gestapelt wurden. In den Beton der Wand ist das Todesdatum eingeritzt: 10-09-2014.
Grab eines nicht identifizierten Border Crossers.

Zahlen werden zu Menschen

Ich suche das Gespräch mit Expertinnen und Experten des Todes, mit Bestattern, Totengräbern, Friedhofsangestellten und Blumenverkäuferinnen. Die Frage, ob die tägliche Konfrontation mit dem Sterben anderer den Blick auf das eigene Leben verändert habe, bejahen die meisten. Die eigene Sterblichkeit und jene der Menschen, die einem lieb sind, begleiten das Leben. Manchmal überkommt mich ein Schauer, der Tod bricht in mein Leben ein als eine Unruhe, die sich zum Widersprüchlichen, Unerwarteten und Ohnmächtigen stellt. Die beunruhigende Antwort auf die Frage, wo ich eigentlich bin, ist die Erfahrung der Grenze und die schlichte Erkenntnis, dass Wörter tatsächlich das Gewicht tragen, das sie sagen. Wir sind es gewohnt, mit Wörtern auf die Ungerechtigkeit der Gegenwart hinzuweisen, wir argumentieren mit Statistiken und prangern die Gewalt der Grenze mit den Zahlen der Toten an. In der empirischen Erfahrung werden diese Worte wieder zu dem, was sie eigentlich sind, zu tatsächlich Erfahrenem, die Nummern werden zu Personen und die Zahlen zu Menschen mit Vergangenheit, Familie und Freunden. Die Spannung zwischen der akademischen und empirischen Welt besteht oft darin, dass aus Worthülsen wieder Worte werden, Worte, die Unruhe stiften. Der Philosoph Thomas Macho stellt dem Titel seines Buches «Das Leben ist ungerecht» einen Imperativ nach, der es mir ermöglicht, Ruhe in einer beunruhigenden Antwort zu finden: «Unruhe bewahren».

Informationen zum Projekt

Gerhild Perl, 35, aus Österreich, Doktorandin, Institut für Sozialanthropologie

Ort:

Die Feldforschung findet in Andalusien (Spanien) statt, vor allem in den Küstengebieten der Provinzen Cádiz, Granada und Almeria sowie in Ceuta, Melilla und Nordmarokko.

Projekt:

Im Mittelpunkt von «Intimate Uncertainties. Precarious Life and Moral Economy across European Borders» (Projektleitung: Sabine Strasser) stehen Menschen, deren Suche nach einem besseren Leben sie auf die jeweils andere Seite der Schengen-Grenze führt. Im Fokus stehen drei Gruppen: Migrantinnen und Flüchtlinge, die trotz der rigiden europäischen Grenzpolitik das Risiko des lebensgefährlichen Grenzübertritts auf sich nehmen; leberkranke Patienten in Deutschland, deren Suche nach einem gesunden Organ sie über die EU-Grenzen hinaus führt (Julia Rehsmann); und russische Eizellenspenderinnen oder Leihmütter, die Paaren aus der EU ihren Kinderwunsch erfüllen (Veronika Siegl). Gerhild Perl arbeitet in ihrer Dissertation zu Verwundbarkeit und Prekarität von illegalisierten Migrantinnen und Migranten und geht dabei Fragen von Moral und ethischen Forderungen im Zusammenhang mit gewaltvollen Toden nach.

Finanzierung:

Schweizerischer Nationalfonds (SNF)

Kontakt:

Mag. phil. Gerhild Perl, Institut für Sozialanthropologie, gerhild.perl@anthro.unibe.ch

Mehr Informationen:

Intimate Uncertainties

Sommerserie: Forschen in der Welt

Sie durchstreifen den Himalaja, tauchen im Tanganyikasee oder wandeln unter indonesischen Palmen: In der «uniaktuell»-Sommerserie «Forschen in der Welt» berichten acht Forscherinnen und Forscher vom Alltag und ihren Erkenntnissen aus aller Welt. Die Berichte sind auch in der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins «UniPress» nachzulesen.

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