Wenn Eishaare auf Ästen wachsen
Im Winter kann man an abgestorbenen Ästen eine bizarre Naturerscheinung beobachten: das sogenannte Haareis. Der Berner Physiker Christian Mätzler und sein Forschungsteam haben das weitgehend unbekannte Phänomen erforscht. Dafür verantwortlich dürfte ein Baumpilz sein.
Es ist, als würden sich die Äste in Staubwedel verwandeln: An Winterabenden, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt fällt, bildet sich mancherorts auf dem Totholz sogenanntes Haareis, eine Mähne aus filigranen Eishaaren. Per Zufall stiess auch der Berner Forscher Christian Mätzler vor Jahren beim Spazierengehen im Wald auf dieses Phänomen: «Ich habe ein Foto vom Eis gemacht und den Förster danach gefragt. Aber obwohl er seit 40 Jahren im Forst arbeitete, konnte er sich nicht daran erinnern, es je zuvor gesehen zu haben.»
Die Neugierde packte Mätzler: Zuerst hobbymässig, dann immer ernsthafter begann er sich mit den rätselhaften Eisfäden und deren Entstehung auseinanderzusetzen. Die bisherigen Erkenntnisse des emeritierten Atmosphärenphysikers und seines Teams von Forschenden aus dem In- und Ausland flossen in eine Studie ein, welche kürzlich vom Institut für angewandte Physik (IAP) publiziert wurde.

Stark genug, um Borke abzusprengen
Trotz ihrer geringen Dicke von nur rund einem Hundertstel Millimeter können die einzelnen Eishaare bis zu zehn Zentimeter lang werden – ein Verhältnis von 1 zu 10'000. Zusammen sind sie stark genug, um die Borke vom Ast abzusprengen, wie Mätzler erklärt. «Gelegentlich geht das so schnell, dass sogar ein Knacken zu hören ist.»
Die derzeitigen Witterungsbedingungen seien übrigens günstig für die Entstehung von Haareis, so der Eisforscher: «Die Luft ist relativ feucht, so dass das Eis nicht so schnell sublimiert, und in der Nacht wird es nicht kälter als minus fünf Grad. Denn darunter gefriert das im Ast gespeicherte Wasser.» An schattigen Orten überdauern die Eishaare auch den Tag. An der Sonne beginnen sie hingegen zu schmelzen, wobei sich kleine Wassertröpfchen an ihnen bilden.

Ohne Pilz kein Eis
Doch weshalb entsteht an manchen Ästen Haareis und an anderen nicht? Bereits der berühmte Polarforscher Alfred Wegener vermutete 1918 in einer Studie – eine der wenigen, die bislang zum Thema gemacht wurden – dass die Entstehung mit einem Baumpilz zusammenhängt. Mätzler und seinem Team gelang es nun, diese These zu bestätigen. In allen untersuchten Ästen, aus welchen Haareis wuchs, war eine Pilzsorte präsent, die nur auf bestimmten Laubbäumen vorkommt: die Rosagetönte Gallertkruste (Exediopsis effusa). Wurde der Pilz mit einem Fungizid abgetötet, bildete sich kein Haareis mehr.
Die Forscher entdeckten in den geschmolzenen Eishaaren zudem Reste organischer Substanzen, darunter Lignin. Diese Fäden ziehende Substanz verleiht den Pflanzen ihre Festigkeit. Mätzler vermutet, dass dieses Lignin oder ein ähnlicher Stoff das Eis seine ungewöhnliche Form behalten lässt: «Normalerweise ‹versucht› Eis, seine Oberfläche möglichst gering zu halten, weshalb seine Kristallspitzen mit der Zeit eine stabile, abgerundete Form annehmen. Doch das Lignin könnte diese sogenannte Rekristallisation verhindern.»
Das Haareis dürfte dem Baumpilz als eine Art Frostschutzmittel dienen: Statt in den Poren des Astes zu gefrieren, in denen auch der Pilz wohnt, wird das darin enthaltene Wasser an die Oberfläche gedrückt, wo es zu Eisfäden erstarrt. Dank der Energie, die beim Gefriervorgang frei wird, bleibt der Ast zudem etwas wärmer als die Umgebung.

Bald Haareis in der Glace?
Die genauen chemischen und physikalischen Prozesse, welche das Eis entstehen lassen, bleiben indes weiter im Dunkeln. Rätselhaft bleibt auch, wieso es in den letzten Jahren scheinbar mehr Haareis-Sichtungen gibt als früher. «Vielleicht haben sich wegen des Klimawandels die Bedingungen dafür verbessert», mutmasst Mätzler. «Aber es ist natürlich möglich, dass die Leute dank der Verbreitung von Digital- und Handy-Kameras ihre Entdeckungen einfach besser dokumentieren können als früher.»
Der Physiker glaubt trotz des wachsenden Interesses nicht, dass Studien über Haareis bald ganz oben auf der Prioritätenliste der Wissenschaft stehen werden. Es sei ja ein zwar wunderschönes, im Grunde jedoch «relativ unbedeutendes Phänomen». Ein Wirtschaftszweig könnte allerdings an der Haareis-Forschung interessiert sein, wie Mätzler abschliessend sagt: «Ich kann mir vorstellen, dass zum Beispiel die Glace-Industrie daraus dereinst neue Methoden entwickeln könnte, ihr Speiseeis fantasievoller zu gestalten.»