Von tuberkulösen Nymphomaninnen

In Max Frischs Werk widerspiegelt sich der Übergang von den alten Ängsten vor Infektionskrankheiten hin zur modernen Krebs-Angst. Der Berner Literatur-Professor Yahya Elsaghe zeigte diese Entwicklung und die Verbindung von Tuberkulose und Begierde in seinem Vortrag in der Reihe «Buch am Mittag» auf.

Von Salomé Zimmermann 07. Januar 2014

«Im Geburtsjahr von Max Frisch, 1911, starben die meisten Menschen an Infektionskrankheiten. 80 Jahre später, als der Schriftsteller seinem eigenen Krebsleiden erlag, gehörte selbst die Tuberkulose nicht einmal mehr zu den 20 häufigsten Todesarten», stellte Yahya Elsaghe fest. Frischs Werk zeuge von den Ansteckungsängsten, die mit den Infektionskrankheiten verbunden waren – wie auch von ihrem Verschwinden, so der Berner Professor für neuere deutsche Literatur.

Exzentrische weibliche Tuberkulöse

Zu den gefürchtetsten und häufigsten Krankheiten gehörten Anfang des letzten Jahrhunderts der Typhus, die Cholera, die Syphilis und die Tuberkulose. An letzterer, auch Schwindsucht genannt, leiden in Max Frischs Romanen ausschliesslich Frauen – die Tuberkulose steht gemäss Elsaghe für die Exzentrizität der betroffenen Frauenfiguren. Elsaghe zeigte in seinem Referat «Nymphomanie und Tuberkulose – Krankheit bei Max Frisch» den Zusammenhang zwischen Schwindsucht, Lust, Ängsten und medizinischem Fortschritt anhand von Frischs drei bekanntesten Romanen auf: «Stiller» (1954), «Homo faber» (1957) und «Mein Name sei Gantenbein» (1964). Elsaghes These: Die Entwicklung in den drei Büchern lässt erkennen, wie die Tuberkulose allmählich aus dem kollektiven Bewusstsein verschwindet.

Max Frisch
Max Frisch 1976 an seinem Schreibtisch in Berzona. © Max Frisch-Archiv Zürich, Fotograf: Andrej Reiser

Toxine der Tuberkulose

In «Stiller» leidet die Ehefrau des Protagonisten, Julika, an der Schwindsucht. Stiller nimmt die Krankheit zunächst nicht ernst, unterstellt seiner Frau, sie simuliere und wolle sich seinen sexuellen Annäherungen entziehen. Julika muss zur Kur nach Davos und «fühlt ihren grazilen Körper verbrennen wie Zunder». Die ehemalige Balletttänzerin, als «frigide» beschrieben, macht über Nacht eine Wesensveränderung durch und wandelt sich zur «Nymphomanin», die in ihren sexuellen Fantasien von Ärzten und Bäckerburschen träumt. Je mehr die kranke Frau ihren Körper verbrennen fühlt, desto stärkeres Verlangen empfindet sie, so der Romantext.

Damit knüpft der Autor an die damals weit verbreitete Vorstellung an, dass die Tuberkulose die «Erotik der Befallenen befeuere». Auch die Ärzte gingen von dieser Annahme aus, wie der Germanistik-Professor mit etlichen Zitaten aus der medizinischen Fachliteratur der damaligen Zeit belegte. In Werken anderer Autoren wie beispielsweise bei Thomas Mann ist ebenfalls von der «Begehrlichkeit brustschwacher Leute» die Rede. Man glaubte, dass Toxine der Tuberkulose durch biochemische Wirkungen diese Veränderung verursachten.

Diese Auffassung stimmt jedoch aus heutiger medizinischer Sicht nicht, wie Elsaghe ausführte. Vielmehr hätten wohl äussere Umstände wie Langeweile und Verlust der Sozialkontrolle in den Sanatorien zu einer stärkeren Libido geführt. Stiller, der Julikas Tuberkulose als «Wohlstandsmarotte einer Narzisstin» abtat, sieht sich nach der Operation Julikas, bei der ein Teil ihrer Lunge herausoperiert wird, mit ihrem Tod konfrontiert – er markiert zugleich das Ende des Romans. Zu der Zeit, als die Handlung spielt, wurde der Nobelpreis der Medizin an den Penicillin-Entdecker vergeben und auch ein pharmakologischer Durchbruch im Kampf gegen die Tuberkulose erzielt.

Krebskranke Männer

In «Homo Faber» wird der Protagonist Faber, der Primus in der Mathematik, als Jugendlicher von der Frau seines Mathe-Professors verführt und erlebt sein erstes sexuelles Abenteuer. Dabei galt ausgerechnet die Mathematik als Gegenmittel gegen übermässige Begierde. Das Hauptmerkmal der Professoren-Gattin ist ihre Lungenkrankheit, womit wiederum ihre ausgeprägte Libido erklärt wird, so Elsaghe. Auch in «Mein Name sei Gantenbein» ist von einer Ehebrecherin die Rede, die ebenfalls an Tuberkulose gelitten hat, deren Krankheit aber vollständig ausgeheilt ist und nur noch als Druckmittel im Ehekrieg in Betracht kommt. «Nach und nach verschwindet die Tuberkulose aus Frischs Büchern. An ihre Stelle tritt eine Krankheit, die nun auch und vor allem Männer befällt: der Krebs», erläuterte Elsaghe. Auch Fabers Magenleiden entpuppt sich als Krebs, dem er schliesslich erliegt.

Weiterführende Informationen

Lektüre zu Max Frisch

Eben ist Yahya Elsaghes Werk zu zwei Romanen von Max Frisch erschienen:
Yahya Elsaghe: Max Frisch und das zweite Gebot. Relektüren von Andorra und Homo faber.

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