«Sternstunde» der Berner Politik

Sie war wegweisend für andere Kantone und die Eidgenossenschaft, und sie feierte vor kurzem ihr 20-jähriges Bestehen: die Verfassung des Kantons Bern. An der Universität Bern blickten die Mitglieder der Verfassungskommission und das Institut für öffentliches Recht auf deren Entstehung zurück.

Von Sandra Flückiger 03. März 2014

Ein «esprit de constitution» erfasste den Kanton, als das Berner Volk im Dezember 1987 dafür stimmte, die Staatsverfassung total zu revidieren – so die Worte von Kurt Nuspliger, der durch die gut besuchte Tagung zum 20-jährigen Bestehen der Berner Verfassung führte. Es sei wie ein Klassentreffen, witzelte der Berner Honorarprofessor und ehemalige Staatsschreiber, seien doch zahlreiche Mitglieder der ehemaligen Verfassungskommission an die Universität gekommen, um sich mit den Erfahrungen und Perspektiven der Totalrevision zu befassen.

Altbundesrat Samuel Schmid
Der spätere Bundesrat Samuel Schmid war Präsident der parlamentarischen Verfassungskommission. Bilder: Abteilung Kommunikation

Verfassung war nicht mehr zeitgemäss

Eine 35-köpfige parlamentarische Kommission wurde damit beauftragt, die teils über 100-jährigen Erlasse zu überarbeiten und zu erneuern. «Die Verfassung war für weite Bedürfnisse der Gesellschaft, wie etwa Datenschutz, Jugendschutz, Alter oder Gleichstellungsfragen nicht mehr zeitgemäss», so Samuel Schmid, ehemaliger Präsident der Verfassungskommission und alt Bundesrat. Die Erarbeitung der Verfassung sei eine «Sternstunde des Parlaments» gewesen.

Bern war dabei Teil einer Schweizer Bewegung: Nachdem Nidwalden 1965 als erster Kanton eine Totalrevision in Angriff genommen hatte, war dieser Prozess in den 1980er und 90er Jahren auch im Rest der Schweiz in vollem Gange. Bis heute haben nur noch Zug, Appenzell Innerrhoden und das Wallis eine alte Verfassung.

Publikum im Kuppelsaal der Universität Bern
Im Kuppelsaal der Universität waren viele ehemalige Mitglieder der Verfassungskommission – es sei wie an einem Klassentreffen, sagte Tagungsleiter Kurt Nuspliger.

Kantonsrecht ist Stiefkind der Wissenschaft

Für das Institut für öffentliches Recht an der Universität Bern sei die Totalrevision ebenfalls eine «Sternstunde» gewesen, sagte Walter Kälin, Ordinarius für eidgenössisches und vergleichendes kantonales Staatsrecht am selbigen. Die Verfassungskommission arbeitete eng mit der Universität Bern zusammen – gemäss Samuel Schmid war dies einer der Erfolgsfaktoren: «Die Staatsrechtler zeigten uns beispielsweise den Handlungsspielraum auf kantonaler Ebene auf, sodass wir wussten, wo wir frei in der Gestaltung und souverän waren und wo der Bund die Kompetenzen hatte.»

Staatsrechtsprofessor Walter Kälin zeigte sich beeindruckt von der konstruktiven Arbeitsweise der Verfassungskommission.

Die Berner Forschenden sahen die neue Verfassung laut Kälin als intellektuelle Herausforderung: «Das kantonale Verfassungsrecht ist ein Stiefkind in der akademischen Welt. Wir stellten uns viele Fragen zum ersten Mal, was sehr spannend war.» Beeindruckt zeigte sich der Professor auch von der Arbeit der Verfassungskommission und ihres Präsidenten. Die Kommission habe mit höchster Seriosität, konstruktiv und zielorientiert ein komplexes Projekt innert kurzer Zeit verwirklichen können.

Meilenstein in der Verfassungsgebung

Am 6. Juni 1993 wurde die revidierte Berner Verfassung mit einem Ja-Stimmenanteil von 78 Prozent angenommen, Anfang 1995 trat sie in Kraft. «Die neue Verfassung präsentiert sich als eine liberale und soziale Grundordnung, die dem Schutz des Individuums einen zentralen Stellenwert einräumt», schreibt Kurt Nuspliger im Buch «Berns moderne Zeit». So wurden etwa der Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger ausgebaut und das Öffentlichkeitsprinzip eingeführt. Neu – und bisher praktisch einzigartig in der Schweiz – war ausserdem das sogenannte konstruktive Referendum. Dieser «Volksvorschlag» ermöglicht es den Gegnern einer Vorlage, den Stimmberechtigten zu einem Gesetz oder Grundsatzbeschluss des Grossen Rates eine aus ihrer Sicht sinnvollere Lösung vorzuschlagen.

Kurt Nuspiliger
Gemäss dem ehemaligen Staatsschreiber Kurt Nuspliger ist die total revidierte Berner Verfassung ein Meilenstein in der Verfassungsgebung.

Die Berner Verfassung gilt gemäss Nuspliger als Meilenstein in der Verfassungsgebung; sie hat sowohl die Bundesverfassung wie auch die Verfassung anderer Kantone beeinflusst. Das Öffentlichkeitsprinzip beispielsweise haben zahlreiche Kantone nach dem Berner Vorbild übernommen. Der Einfluss auf die Bundesverfassung sei in einem weiteren Sinne zu verstehen, sagte Staatsrechtsprofessor Kälin. Bei den Grundrechten habe Bern mit anderen Kantonen vorgespurt, sonst liessen sich insbesondere auf der Ebene der Systematik und in Bezug auf die Sprache viele Parallelen feststellen. Sein Fazit: «Die Berner haben einen wichtigen Stein zum Gebäude der Verfassungsentwicklung der Schweiz beigetragen.»