Dem Gedächtnis auf der Spur

Die Neurowissenschaften ermöglichen ein immer besseres Verständnis des Gehirns und von neurologischen Erkrankungen. Am Jahresmeeting der klinischen Neurowissenschaften Bern stellt auch Nobelpreisträger Susumu Tonegawa seine aktuellsten Studien zur Aktivierung von Nervenzellen bei Lernprozessen vor.

Von Sandra Flückiger 24. Januar 2014

Das Gehirn ist das komplizierteste und faszinierendste Organ des Menschen. Es ermöglicht die Wahrnehmung unserer Umwelt, die Entscheidungsfindung aufgrund gemachter Erfahrungen, und es steuert das Verhalten. Unser Wissen wird teilweise ein Leben lang im Gehirn gespeichert. Wie funktioniert dieser Lernprozess genau? Zur Beantwortung dieser Frage begeben sich Hirnforscher auf die Suche nach der «Spur des Gedächtnisses», auch Engramm genannt. «Eine Gedächtnisspur ist das elektrische Muster, das sich im Gehirn entwickelt, wenn man sich an etwas erinnert», erklärt der Berner Physiologe Thomas Nevian.


Nervenzellen tauschen Informationen mittels elektrischer Signale aus. Bei Lernprozessen entsteht dabei ein Muster, die sogenannte Gedächtnisspur. (Bild: istock)

Gelerntes wird in Nervenzellen gespeichert

Eine Koryphäe auf diesem Gebiet ist der japanische Nobelpreisträger Susumu Tonegawa. Am gemeinsamen Jahresmeeting der klinischen Neurowissenschaften Bern und der Swiss Society for Neuroscience stellt der Professor für Neurophysiologie vom renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston seine aktuellste Forschung zum Thema der Entstehung von Gedächtnisspuren vor. «Seine Studien bewegen sich auf dem höchsten technischen Niveau», erläutert Nevian, «und er hat Methoden in die Hirnforschung eingebracht, die wir seit kurzem auch an der Universität Bern anwenden.» So beeinflusst der studierte Molekularbiologe Tonegawa etwa mit Hilfe von Licht genetisch modifizierte Nervenzellen, die sich dadurch gezielt fernsteuern lassen. Dieses relativ neue Fachgebiet wird als Optogenetik bezeichnet, da es eine Kombination aus Optik und Genetik darstellt.

Ein Experiment des Japaners funktioniert beispielsweise so: Bei Mäusen wird ein Protein, das durch Licht aktiviert werden kann in ein bestimmtes Hirnareal, welches für Lernprozesse entscheidend ist, eingeschleust. Eine bestimmte Gruppe von Nervenzellen wird dann gezielt aktiviert, indem ein Ton zusammen mit einem Schmerzreiz repräsentiert wird, wodurch die Maus in eine Schockstarre verfällt. Das Tier lernt also, den Schmerz mit einem bestimmten Ton zu assoziieren – und zeigt das Angst-Verhalten schliesslich auch, wenn es nur den Ton hört. Gleichzeitig wird in den Nervenzellen, die an dem Lernprozess beteiligt waren, das lichtempfindliche Protein in die Struktur der Zelle eingebaut.

«Wenn es nun stimmt, dass Gelerntes in einem kleinen Verbund von Nervenzellen gespeichert wird, sollten diese das Verhalten auch auslösen, wenn sie künstlich aktiviert werden», erklärt Nevian die These. Was tatsächlich funktioniert: Werden die Zellen durch Licht aktiviert, verfällt die Maus ebenfalls in eine Schockstarre – ohne den Ton. «Dies beweist, dass das Engramm wichtig ist zum Lernern und dass eine bestimmte Gruppe von Nervenzellen für die Speicherung von Gelerntem zuständig ist», erläutert der Berner Professor das Experiment des Nobelpreisträgers. Diese Vermutung habe schon lange bestanden, Tonegawa habe aber den ersten direkten Beweis dafür erbracht.


Die Fortschritte der Neurowissenschaften ermöglichen ein besseres Verständnis von neurologischen Erkrankungen wie etwa neuropathischen Schmerzen oder Demenz. (Bild: Clipdealer) 

Besseres Verständnis von Demenz und Schizophrenie

«Dank den Fortschritten der Neurowissenschaften wissen wir immer präziser, wo die Gedächtnisinhalte in den komplizierten Netzwerken aus Milliarden von Nervenzellen gespeichert werden», sagt Nevian. Damit wachse auch das Verständnis von neurologischen Erkrankungen – von neurodegenerativen Krankheiten, wie Parkinson und Demenz, über Schlaganfälle bis hin zu psychiatrischen Krankheiten wie Schizophrenie oder Angstzuständen.

Die klinischen Neurowissenschaften an der Universität Bern bilden gemäss Nevian das breite Spektrum der verschiedenen Ansätze zum Verstehen des Gehirns ab. Sie sind ein interdisziplinärer Schwerpunkt der Universität und umfassen die Institute für Psychologie und Physiologie sowie die Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) und die Universitätsklinik für Neurologie des Berner Inselspitals. Während in der Neurologie unter anderem die Schlafforschung einen Forschungsschwerpunkt darstellt, wird in der Psychologie etwa untersucht, wie das Gedächtnis im Schlaf konsolidiert wird oder wie man etwas lernt, ohne es wahrzunehmen.

Wie chronische Schmerzen entstehen

Die Forschenden um Thomas Nevian befassen sich hauptsächlich mit neuropathischen Schmerzen. Diese treten zum Beispiel auf, wenn man sich den Ischiasnerv einklemmt und die Schmerzen auch nach der Heilung bestehen bleiben. «Dann sind unerwünschte Lernprozesse aufgetreten. Das heisst, die Eigenschaften der Nervenzellen haben sich langanhaltend verändert, und es hat sich ein Schmerzgedächtnis entwickelt», erklärt der Grundlagenforscher.

Mit seinem Team untersucht Nevian nun, welche Nervenzellen beim Auftreten der Schmerzen aktiviert wurden und wie man diese Prozesse wieder umkehren kann. «Wir haben neue Erkenntnisse über Methoden, mit denen man die Aktivität der involvierten Nervenzellen vielleicht herunterregulieren könnte. Dazu könnten auch die Ergebnisse von Prof. Tonegawa hilfreich sein. Daran wird jedoch noch einige Zeit geforscht werden müssen.» Diese neuen Untersuchungen zielten darauf ab das Schmerzgedächtnis zu manipulieren und die emotionalen Aspekte von chronischen Schmerzen positiv zu beeinflussen.

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