Moderne Medizin – wenn fast alles möglich wird

In der modernen Medizin ist vieles machbar. Aber ist auch alles wünschbar? Über diese Frage sprach Professor Thierry Carrel vom Inselspital Bern am Forum für Universität und Gesellschaft.

Von Martina Dubach 19. November 2014

Technisch sei fast alles möglich, sagte Rektor Martin Täuber in seiner Einführungsrede zur Reihe «Ist weniger mehr? Grenzen der modernen Medizin». Das aber mache die Sache erst richtig schwierig: «Mit dem frappanten Fortschritt, den die Medizin in den letzten Jahren gemacht hat, wird vermehrt hinterfragt, ob die Massnahmen zumutbar, sinnvoll und vertretbar seien», so Täuber.

Martin Täuber im Interview
Rektor Martin Täuber ist selber Mediziner. Bild: Martina Dubach.

Das heutige molekulare Verständnis des menschlichen Körpers habe zu hochwirksamen Medikamenten geführt, Fortschritte in der Bildgebung hätten die Diagnose von Krankheitsbildern wesentlich verbessert und Erfolge in der Forschung machten Hoffnung auf immer effizientere und wirksamere Behandlungsmethoden. Gleichzeitig stiegen aber die Gesundheitskosten stetig an. Immer öfters werden daher die Fragen nach den Grenzen und Schattenseiten dieser glänzenden Entwicklungen gestellt: Was soll gemacht werden? Wo müssen wir nüchtern überlegen und abwägen, ob eine Behandlung wünschbar und sinnvoll ist?

Es geht nicht um unbeschränkte Lebenserwartung

«Unsere Ressourcen sind nicht unbeschränkt verfügbar», sagte der Herz- und Gefässchirurg Prof. Thierry Carrel. Er sprach über die Grauzone, in der Entscheide getroffen werden müssten, die weit über die rein medizinische Indikation und Behandlung hinaus gingen und in der auch Sinn, Ethik oder wirtschaftliche Aspekte Ihren Platz haben müssten.

Gerade auch im Hinblick auf die demografische Entwicklung habe sich die Problematik verschärft. Die Menschen werden immer älter, die Lebenserwartung steigt stetig. Doch macht es Sinn, mit den fast unendlichen Möglichkeiten der Medizin immer älter zu werden? «Als Mediziner wollen wir nicht unbeschränkte Lebenserwartung schenken, sondern die Autonomie, die Lebensqualität und die Leistungsfähigkeit der Menschen möglichst lange erhalten», so Carrel. Die Menschen hätten nicht Angst vor dem Tod, sondern vor einem qualvollen Sterben: «Deswegen soll die Medizin auch ein Sterben in Würde und ohne starke Schmerzen ermöglichen.»

Thierry Carrel
Thierry Carrel war einer der Hauptreferenten am Forum für Universität und Gesellschaft.

100'000 Franken pro Lebensjahr

Carrel verwies auf ein weiteres Problem: «Mediziner und Ökonomen verstehen sich nur bedingt.» Die Perspektiven in der modernen Medizin seien immer häufiger von Ressourcenproblemen geprägt, die Behandlungen müssten den Kriterien der Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit genügen.

«Die Ökonomisierung birgt die Gefahr, gute Medizin zu verhindern, da die Behandlung nicht nach dem besten Resultat, sondern nach dem optimalen Ertrag beurteilt wird». Bei sehr alten Patienten sei dabei zu bedenken, dass die optimale Behandlung die teuerste sei. Carrel brachte es so auf den Punkt: «Aus wirtschaftlicher Sicht führt diese Operation aber nur zu einem bescheidenen Kosten-Nutzen-Verhältnis, weil der Patient ohnehin in den nächsten fünf Jahren sterben wird.» Mit solchen Dilemmata seien Ärzte regelmässig konfrontiert und Diskussionen vorprogrammiert. «Das Bundesgericht hat bei einem anderen Fall einmal entschieden, dass ein zusätzliches Lebensjahr ungefähr 100'000 Franken kosten darf.»

Machen können, machen müssen, machen dürfen

Mit dem Fortschritt sei auch die Sinnfrage in der Medizin stark ins Zentrum gerückt: «Während früher mehr Wünschbares als Machbares war, gibt es heute mehr Machbares als Wünschbares», so Carrel. Bei einer medizinischen Indikation stünden sich ganz unterschiedliche Problemkreise gegenüber: auf der einen Seite das Ressourcenproblem und die Forderung nach der Wirtschaftlichkeit, auf der anderen Seite die Rolle des Arztes als Aufklärer über die Behandlungsmöglichkeiten und die Präferenzen der Patienten. Dieses Dilemma sei oft nur sehr schwer lösbar. Zu den Fragen des Könnens, Müssens, Sollens und Dürfens trete heute eine weitere hinzu, die der Mediziner mit seinem Gewissen ausmachen müsse: diejenige nach dem Machen wollen.

Weiterführende Informationen

Nächste Veranstaltung am 29. November

Die nächste Veranstaltung der Reihe «Ist weniger mehr? Grenzen der modernen Medizin» findet am 29. November statt. Im Zentrum werden Entscheidungen am Lebensanfang stehen. Unter anderem berichtet die Mutter eines Extremfrühchens, das zum Zeitpunkt der Geburt weniger als 400 Gramm wog, von ihren Erfahrungen und den schwierigen Entscheidungen.

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