Tanzend in die Wissenschaft

Künstlerischer Bühnentanz verarbeitet wissenschaftliche Erkenntnisse. Umgekehrt beeinflusst er aber auch die Forschung. Ein Blick in die Geschichte bestätigt dies, sagt die Berner Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner.

Von Sandra Flückiger 01. Februar 2013

In T-Shirt und Jeans steht die Tänzerin vor dem Publikum. Zuerst bewegt sie nur leicht ihre Schultern, krümmt ihren Rücken, bevor sie sich wieder aufrichtet, ihre Brust herausstreckt, posiert, die Muskeln spielen lässt, um dann zu Boden zu gehen, mit zuckenden Hüften und wechselndem Ausdruck im Blick. Eine Flut von Zeichen jagt die Choreographin Meg Stuart im Stück «Soft Wear» durch ihren Körper, wie die Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner beschreibt. Meg Stuart gibt sich übergangslos verklemmt, beklommen, cool, sexy, schlapp und tobend.

Dies ist nicht nur einfach ein Tanzstück – es steckt mehr dahinter: «Meg Stuart demonstriert damit, dass ein Körper viele verschiedene Figuren darstellen kann», erklärt Christina Thurner, Professorin am Institut für Theaterwissenschaft der Uni Bern.

Beschäftigung mit dem Körper

Dieselbe Reflexion findet sich auch in der Wissenschaft wieder, etwa in der Philosophie: Gemäss der Theorie von Judith Butler, einer amerikanischen Philosophin, ist der Körper nicht einfach nur, sondern er repräsentiert immer etwas. Von den Betrachtern wird er dementsprechend ständig interpretiert – wie im Tanz.

Ungewöhnlich ist diese Gemeinsamkeit von Tanz und Philosophie nicht. «Verschiedene Forschungsdisziplinen und künstlerischer Tanz beeinflussen sich häufig gegenseitig, da sich beide mit dem Körper beschäftigen», sagt Christina Thurner, die über das Thema einen Vortrag an der Anfang Februar in Bern stattfindenden Tanztagung (siehe Kasten) hält.

Tänzerin
So genannter Konzepttanz reflektiert das Körperverständnis besonders kritisch. Bild: Istock

Tanz als Metapher

Die Berner Tanzwissenschaftlerin beschäftigt sich in ihrer Forschung insbesondere mit künstlerischen Erzeugnissen wie Bühnentanz im Hinblick auf ästhetische und geschichtliche Fragen. Die Hauptgebiete umfassen dementsprechend Tanztheorie, Dramaturgie und Aufführungsanalyse sowie Tanzgeschichte.

Gerade in der Geschichte finden sich immer wieder Beispiele für die gegenseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Tanz. «So wurden etwa schon in der Antike Tänze aufgeführt und bei Aristoteles finden sich Reflexionen dazu», erläutert Thurner.

Die Bedeutung von Tanz als Metapher für ein politisches System kann beispielsweise an Aufführungen am Hof des französischen «Sonnenkönigs» Louis XIV. veranschaulicht werden: «Der höfische Tanz bestand aus einer klaren geometrischen Anordnung im Raum mit einer zentralistischen Herrscherposition. Der ganze Hofstaat bewegte sich darum herum. Dies widerspiegelte nicht nur das absolutistische System von Louis XIV. – durch den Tanz wurde das System auch bestätigt und weitergeführt», führt die Wissenschaftlerin aus.

Kulturell geprägte Körper

Im 18. Jahrhundert hingegen sei man aus philosophischer und anthropologischer Sicht weggekommen von der repräsentativen Ordnung des Adels, nämlich hin zu bürgerlichen Konzepten des Staates und des Menschen. Parallel dazu habe sich das Ballett reformiert. «Tänzer waren nicht länger einfach Typen in einem geometrischen System, sondern nahmen neuerdings Rollen ein und stellten Charaktere dar.»

Porträt von Christina Thurner
Wissenschaft und Tanz gehen laut Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner davon aus, dass der Körper kulturell geprägt ist. Bild: Stefan Wermuth

Für Christina Thurner liegt auf der Hand, wie solche Verbindungen entstehen: «Sowohl der Tanz als auch verschiedene Disziplinen der Wissenschaft setzen sich zentral mit dem Körper auseinander, fragen sich, wie er ist und was er kann. Sie gehen heutzutage davon aus, dass der Körper nicht naturgegeben und immer gleich, sondern historisch und kulturell geprägt ist.»

Hinterfragte Normen

Besonders kritisch reflektiert wird das Körperverständnis im so genannten Konzepttanz, der sich Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte. Damit einher gehen zum Beispiel ein Umdenken in der Medizin und im Recht, was die Festlegung des Geschlechts eines Neugeborenen angeht, sowie die in der Gesellschaft heutzutage vermehrt geführte Diskussion über Intersexualität.

Geschlechterdefinitionen werden kritisch hinterfragt – und dies spiegelt sich im Tanz wider: «Meg Stuart stellt diese Reflexionen in ihrer eingangs beschriebenen Choreographie sehr anschaulich dar. Durch die rasend schnellen Veränderungen ihres körperlichen Ausdrucks ist sie nicht mehr eindeutig als Frau erkennbar. Sobald der Zuschauer eine Zuschreibung macht, wird diese sofort revidiert», führt Thurner aus. «Sie stösst damit die Diskussion um die heute herrschenden Körpernormen an – wie dies eben auch in wissenschaftlichen Bereichen wie der Medizin oder dem Recht geschieht.»

Tanztagung

Vom 1. bis 3. Februar führt das Institut für Sportwissenschaft zusammen mit der Pädagogischen Hochschule Bern die internationale Tagung «Visionäre Bildungskonzepte im Tanz» durch. «Wie lassen sich Künstlerischer Tanz, Tanzwissenschaft und Tanzbildung zukunftsweisend verbinden?», lautet dabei die zentrale Frage. Der Anlass steht allen Interessierten offen, eine Anmeldung ist erwünscht. Der Vortrag von Christina Thurner am Samstag, 2. Februar, um 10.15 Uhr kann ohne Voranmeldung besucht werden, ebenso der «Social Dance Event» mit Vorführungen am Samstagabend (Eintritt 30.- Fr.).

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