Medizinhistorische Briefe aus bewegten Zeiten

Marcel Bickel, emeritierter Professor für Pharmakologie, hat sich intensiv mit Medizingeschichte befasst und 17 vollständige Korrespondenzen des wichtigen Medizinhistorikers Henry Sigerist aufgearbeitet. Die aufwändige Editionsarbeit ist nun online erschienen.

Von Sandra Flückiger 15. Februar 2013

Er war der bedeutendste Medizinhistoriker des 20. Jahrhunderts: Henry E. Sigerist. Bedeutend ist aber nicht nur seine Forschung, sondern auch die schier unerschöpfliche Menge an Briefen, die er verfasste. «Zeitweise hat er über tausend Briefe pro Jahr geschrieben», weiss Marcel Bickel, der als freier Mitarbeiter des Instituts für Medizingeschichte (IMG) der Uni Bern über 3400 Briefe von und an Sigerist ediert und kommentiert hat. Ein Grossteil davon ist nun als Online-Publikation auf der Seite des IMG zugänglich.

Die Korrespondenzen seien ein verborgener Schatz, sagt Bickel. «Sie gewähren einen bisher nicht gekannten Einblick in die Entwicklung der Medizin und der Medizingeschichte der 1930er bis 50er Jahre, besonders in den USA, Grossbritannien und der Schweiz.»

Alter Brief
Henry E. Sigerist hat zeitweise über 1000 Briefe pro Jahr geschrieben – eine bedeutende Quelle für Historiker. Bilder: Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

So sei beispielsweise über das Leben des Schweizer Medizinhistorikers Bernhard Milt vor allem das bekannt, was man seiner Korrespondenz mit Sigerist entnehmen könne, erklärt der Emeritus der Universität Bern, der sich vor allem seit seinem Eintritt in den «Ruhestand» 1993 der Medizingeschichte widmet. Besonders wertvoll an den Korrespondenzen ist zudem, dass nebst den Briefen an Sigerist auch die von ihm verfassten fast vollständig erhalten und gut zugänglich archiviert sind.

Kulturhistorische Bedeutung

Die Briefe erzählen nicht nur von der Arbeit und den Erfahrungen der Verfasser, sondern auch von ihren Plänen und Erfolgen, von gelesenen Büchern und Begegnungen mit Menschen. «Die Dokumente sind auch kulturhistorisch äusserst wertvoll», fasst Bickel zusammen.

Angesichts der bewegenden Zeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ausserdem das weltpolitische Geschehen ein wichtiges Thema. So schrieb beispielsweise Gregory Zilboorg, ein emigrierter russischer Mediziner, am 24. Juni 1941 an Sigerist: « ... before the night was over the counterrevolution would hurl itself on Russia. I hope that this is the end of Hitler. To me the invasion of Russia has the added weight of emotional memories of the past (I saw them there in 1918) and it makes me very sad.»

Zilboorg bringt damit nicht nur seine Hoffnung zum Ausdruck, dass mit dem Einmarsch in Russland das Ende von Hitler naht. Die Situation gemahnt ihn zudem an die Pogrome im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, was ihn sehr traurig stimmt.

Briefwechsel mit der Uni Bern

Henry E. Sigerist wurde 1891 in Paris als Sohn Schweizer Eltern geboren. Er studierte in Zürich und München Medizin und wandte sich danach der Medizingeschichte zu. Als er Professor in Leipzig war, wurde ihm 1932, noch bevor die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, der erste amerikanische Lehrstuhl für Medizingeschichte an der Johns Hopkins University in Baltimore angeboten, wo er sich zum herausragenden Forscher seiner Disziplin entwickelte.

Sigerist
«Sigerist war ein sympathischer Mensch, von dem es viel zu lernen gab», sagt Marcel Bickel über den Medizinhistoriker, den er noch persönlich kannte.

Für die letzte Dekade seines Lebens zog sich Henry Sigerist in das Tessiner Dörfchen Pura zurück. Während dieser Zeit pflegte er Kontakte zu Schweizer Vertretern der Medizingeschichte, darunter Erich Hintzsche, Professor der Anatomie an der Uni Bern. «Eindrucksvoll ist die gegenseitige Hilfestellung der beiden Korrespondenten», sagt Marcel Bickel. «Sigerist machte die schweizerischen medizinhistorischen Aktivitäten und damit auch Hintzsche in Amerika bekannt. Hintzsche lud ihn im Gegenzug zu Vorträgen in Bern ein, und die Uni wollte ihn gar zum Professor berufen.»

Erinnerungen aufgefrischt

Das Interesse von Bickel an Sigerist kommt nicht von ungefähr: «Ich kannte sein Umfeld in Amerika und, als ich noch jung war, auch Henry Sigerist persönlich. Er ist mir in Erinnerung geblieben als sympathischer Mensch mit extrem breitem Erfahrungs- und Interessensspektrum, von dem es viel zu lernen gab.» Die Arbeit an den Korrespondenzen war daher nicht nur aus historischer Sicht interessant – «ich habe auch viele Erinnerungen aufgefrischt.»

Die Editionsarbeit ist nun allerdings abgeschlossen. Und der Emeritus hat sich bereits neuen Projekten zugewandt. Ein Thema ist der Eintritt der Frauen in die Medizin im 19. Jahrhundert. «Was sich da abspielte ist hochspannend: die erbitterten Kämpfe um den Eintritt, die Gegenargumente – der ganze Mentalitätswandel, der sich damals abspielte», erzählt er begeistert. Er wird aber auch weiterhin die Briefe von Henry E. Sigerist lesen.

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