Auf der Suche nach dem «Kick»

Gewaltbereite Fussballfans sind in den Medien sehr präsent. Sportsoziologe Gunter Pilz zeigte an den «Berner Gesprächen zur Sportwissenschaft» die Entwicklung der Fankultur auf – und mit welchen Strategien ihren gewalttätigen Auswüchsen begegnet werden kann.

Von Martin Zimmermann 02. Oktober 2013

Diese Szene wäre im Jahre 2013 undenkbar: Fussballfans drängen bei einem Spiel in Deutschland zu Hunderten an den Spielfeldrand. Von den heute allgegenwärtigen Zäunen, Sicherheitskräften oder Leuchtfackeln schwenkenden Vermummten keine Spur.


Heute undenkbar: Fans drängen bei einem Fussballspiel ans Spielfeld. (Bild: zvg/Gunter Pilz)

Es sind solche Schwarzweiss-Fotografien aus den 1950ern und 1960ern die verdeutlichen, wie stark sich die Fussball-Fankultur in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Der renommierte deutsche Sportsoziologe Gunter Pilz zeichnete an den «Berner Gesprächen zur Sportwissenschaft» diese Entwicklung im Fallbeispiel Deutschland nach – die Situation in der Schweiz ist nach seinen Erfahrungen vergleichbar.

Vom «Kuttenträger» zum «Ultra»

Die in der Öffentlichkeit viel diskutierte Gewaltproblematik im Fussball ist nicht über Nacht entstanden, wie Pilz erläutert. Vielmehr sei sie bis zu einem gewissen Grad Bestandteil der Sportart: «Im Fussball werden Aggressivität, Freund-Feind-Denken, männliche Körperlichkeit und ein homogenes Kollektiv zelebriert.» Daneben hätten sich mit der Professionalisierung und Kommerzialisierung des Fussballs auch die Fans verändert und von ihren Vereinen «entfremdet»: Während sich der Spieler vom Repräsentanten einer Subkultur zum abgehobenen Star ohne Vereinsbindung entwickelt hat, wurden der kumpelhafte «Kuttenträger» und «Schlachtenbummler» von früher zum «Ultra» oder «Hooligan».

Es sei wichtig, die von Behörden und Medien oft gleichgestellten Gruppen auseinanderzuhalten, sagt Pilz, der die Fankultur viele Jahre lang erforscht hat – auch durch regelmässige Spielbesuche: Die Ultras entwickelten sich demnach im studentisch bewegten Italien der 60er Jahre als Antwort auf die Kommerzialisierung. Dabei handelt es sich um fanatische Anhänger der jeweiligen Vereine. Diese seien aber nicht per se gewalttätig, so Pilz. Grundsätzlich seien auch heute «über 99 Prozent der Fans friedlich.»


Fanatisch, aber zumeist friedlich: Anhänger des BSC Young Boys feiern ihren Verein. (Bild: maz)

Über denselben Kamm geschert

Auf die Hooligans trifft das nicht zu: Sie suchen die gewaltsame Auseinandersetzung mit gegnerischen Fans oder der Polizei; das Spiel selbst ist eher Nebensache. «Hooligans aus tieferen sozialen Schichten geht es dabei vor allem um Selbstbehauptung, um das Zusammenstehen und das Durchsetzen von Macht durch Gewalt», erläutert der Sportsoziologe. Hooligans aus dem Bildungsbürgertum suchten eher «den Kick»: «Sie empfinden Gewalt als lustvoll.»

Durch undifferenzierte und teils überzogene Polizeieinsätze solidarisierten sich manche Ultras mit den Gewaltbereiten, sagt Pilz. «Interessanterweise werfen Ultras und die Polizei einander ähnliche Dinge vor: Beide Seiten betrachten einander als verständnislos, undifferenziert und ignorant gegenüber den eigenen Anliegen.»

Kommunikation ist das A und O

Als Leiter der «Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene Soziale Arbeit» an der Leibniz-Universität Hannover hat Gunter Pilz mitgeholfen, Lösungsansätze für das Gewaltproblem in und um die Stadien auszuarbeiten. Er plädiert für eine aktive Fanarbeit, welche die Anliegen der Anhänger nach aussen vertritt und deren Mitverantwortung stärkt. Seitens der Staatsmacht sei hingegen Kommunikation das A und O.

Sein Vorschlag: Polizeieinsätze sollen den Fans immer vorgängig mitgeteilt werden. Speziell geschulte Beamte, sogenannte Konfliktmanager, sollen bei Streitigkeiten schlichtend eingreifen. Grundsätzlich müsse deutlich werden, dass man die Fankultur wertschätze und sie nicht mit Hooliganismus gleichsetze, so Pilz. Bei Vereinen wie Hannover 96, welche diese Strategien umsetzen, habe sich die Stimmung zwischen Fans und Polizei teils markant verbessert, resümiert er: «Statt 800 werden heute nur noch 300 Polizisten zu Hochrisikospielen aufgeboten.»


Dank Konfliktmanagern muss die Polizei an Spieltagen weniger Einsatzstunden leisten. (Bild: zvg/Pilz)

Die Situation in Bern

In der Schweiz stehen die Zeichen im Fussball derzeit auf Verschärfung: Ende September führte Zug als elfter Kanton das sogenannte Hooligankonkordat ein. Damit werden Fussball- und Eishockeyspiele der höchsten Klasse bewilligungspflichtig. Neu können zudem Vorschriften für die Anreise der Gästefans erlassen sowie bei Verdacht Personen am ganzen Körper nach verbotenen Gegenständen durchsucht werden.

Es gibt indes auch gegenläufige Tendenzen: Im Kanton Bern beispielsweise hat die Polizei letztes Jahr – analog zu den Vorschlägen von Gunter Pilz – spezielle Dialogteams eingeführt. Diese empfangen die Gästefans jeweils vor den Stadien. Polizisten in Schutzmontur halten sich derweil im Hintergrund bereit. Die Bilanz fällt bislang gemischt aus: So kommt es nach wie vor zu Scharmützeln zwischen gegnerischen Fangruppen, die Einsatzzeit der Polizei während der Matchs konnte aber reduziert werden.

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