Ein Schmerz, der (k)einer ist

Das Gehirn ist zu wunderbaren Leistungen fähig, kann aber auch zu unbeabsichtigtem Leiden beitragen: Es kann im Körper Schmerzen verursachen, obwohl dieser gesund ist. Ein Psychosomatik-Experte spricht an der «Brainweek» über «atypische» Schmerzen.

Von Bettina Jakob 12. März 2012

Sie bücken sich, um die heruntergefallene Gabel aufzuheben, richten sich wieder auf und – oh weh! – schlagen den Hinterkopf an der offenen Kastentür auf. Dieses Phänomen kennen wir bestens: Das verletzte Gewebe schickt ein Alarmsignal ans Gehirn, dieses meldet Schmerz – ähnlich wie wenn jemand an einem Glockenstrang zieht und oben wildes Gebimmel erklingt. Dieses Ursache-Wirkung-Prinzip der Schmerzempfindung beschrieb René Descartes im 17. Jahrhundert. Es funktioniert logisch und proportional zwischen dem Ausmass der Körperschädigung und der empfundenen Schmerzwahrnehmung: Je wuchtiger der Hammer auf den Daumen schlägt, desto mehr tuts weh.     

Foto eines Mannes, der sich vor Schmerzen den Kopf auf die Hand stützt.
Schmerz ist ein vielschichtiges Phänomen – ein Vortrag an der Brainweek beleuchtet die Psychosomatik. Bilder: istock

«Dieses Schmerzmodell stimmt für den akuten Schmerz weitgehend», sagt Niklaus Egloff von der Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin des Inselspitals, «aber es reicht längst nicht aus, um alle Schmerzen zu erklären, über welche sich Menschen bei ihren Ärzten beklagen.»

Soma und Psyche sind kein getrenntes Paar

«Es gibt auch Rauch ohne Feuer», erklärt Egloff, Experte für psychosomatische Erkrankungen. Ein Kopf kann schmerzen, ohne dass Sie sich diesen angeschlagen haben, und ohne dass es eine nachweisliche körperliche Schädigung gibt. Descartes Glockenstrang-Modell gerät in solchen Fällen ins Wanken. Da gemäss Egloff in der Medizin nach wie vor das dualistische System von getrenntem Körper und Psyche vorherrsche, werde ein solches Phänomen oft einseitig einer Fehlfunktion der Psyche zugeschrieben. «Nach wie vor gehen viele davon aus, dass sich betroffene Patienten diese Schmerzen einbilden.»

Doch dem ist nicht so, weiss Egloff. Mit den heutigen bildgebenden Verfahren können im Gehirn Schmerzsignale direkt nachgewiesen werden, und zwar von Schmerzen, die von einer tatsächlichen Verletzung stammen, aber auch von Schmerzen, denen keine körperlichen Störungen zugrunde liegen. «Soma und Psyche sind in der Schmerzverarbeitung stets untrennbar miteinander verbunden – bei Computern ist für uns die gegenseitige Bedingtheit von Hardware und Software längst selbstverständlich», so Egloff.

Die Kaskade einer Störung

Alles ist okay und es tut trotzdem weh – wie kann das denn sein? «Es liegt ein Schmerzverarbeitungsproblem vor», erklärt der Psychosomatik-Experte: Auf dem langen Weg von einer Körperwahrnehmung über die Nervenstränge im Rückenmark in die verschiedenen Gehirnregionen können diverse Störungen auftreten: Eine Empfindung kann unter gewissen Voraussetzungen subjektiv und objektiv verstärkt werden; so ist zum Beispiel ein Arbeiter nach einer Nachtschicht schmerzempfindlicher als in ausgeschlafenem Zustand. Diese subjektiven Wahrnehmungen wiederum haben direkte Auswirkungen auf die Strukturen im Gehirn, bei langanhaltenden Schmerzen wird das Netz der Nervenzellen richtiggehend krankhaft umgebaut – und ein Schmerz kann chronifiziert, verstärkt und anatomisch ausgeweitet werden.

Foto mit verschiedenen Röntgenbildern des Gehirns
Das menschliche Gehirn ist hochkomplex aufgebaut – und damit auch die Schmerzverarbeitung.

Bei so genannt psychogenen Störungen dreht sich der Spiess oft um: Durch ausgeprägte Stresssituationen können über hormonelle Veränderungen im Gehirn – und als Folge im ganzen Körper – körperliche Beschwerden ausgelöst werden: Bauchschmerzen, Nacken- und Kopfschmerzen, Muskelverspannungen. Interessant ist: «Das menschliche Gehirn unterscheidet dabei nicht zwischen körperlichem Schmerz und psychischem Leiden. Die zerebrale Schmerzverarbeitung hält das dualistische Konstrukt von Descartes beim Lebenden nicht aufrecht», betont Egloff.

«Überleister» und «Working poor»

Funktionsstörungen sind weit verbreitet: Rund 30 bis 40 Prozent der Hausarztkonsultationen in der Schweiz liegen psychosomatische Ursachen mit zugrunde, wie Egloff ausführt. Der typische Schweizer Patient, der darunter leide, fordere sich aus eigenem Antrieb zuviel ab, sei ein «Überleister» und hoch motivierter Mitarbeiter, der jedoch seine Ressourcen angreift. Auch Spitzensportler überforderten sich oftmals selber. Eine Stresserschöpfung, die von äusseren Faktoren bedingt ist, wird vermehrt bei «Working poor» beobachtet, die von Job zu Job eilen und sich dennoch kaum über Wasser halten können.

Auf die Kinder acht geben

Nicht jeder gestresste Mensch jedoch leidet gleichermassen unter Funktionsstörungen: «Die einen sind verwundbarer als andere, es gibt eine individuelle Disposition, die unter Umständen auch familiär bedingt sein kann», erklärt Egloff. Auch Erfahrungen, die ein Mensch als Kind macht, spielen eine grosse Rolle: «Am verletzlichsten sind die Kinder», stellt der Forscher und Arzt klar: Menschen, die in stabilen kontinuierlichen Beziehungen aufgewachsen sind, haben eine bessere Stressregulationsfähigkeit. Stationär werden an der Insel auch Personen behandelt, die Traumatisierungen erlitten haben. «Tragische Geschichten», so Egloff, über geschlagene Menschen, vernachlässigte Seelen, gefolterte Körper: «Ein Mensch, der über lange Zeit gefesselt war, empfindet auch nach Jahren noch Druckschmerzen an den betroffenen Körperteilen», so Egloff.

Das Gehirn ist plastisch

Doch die gute Nachricht lautet: «Wir sind nicht starre Lebewesen, die Lernfähigkeit des Gehirns und damit neuroplastische Veränderungen zur gesunden Wahrnehmung von Schmerz sind enorm», weiss Egloff aus der Erfahrung an der Abteilung für Psychosomatik am Inselspital, die sein Chef Prof. Roland von Känel aufgebaut hat. Für einen Schritt zur Genesung braucht es aber meistens Veränderungen auf vielen Ebenen: In der Verhaltenstherapie lernen die Patientinnen und Patienten den Fokus vom Schmerz wegzubewegen, positive Erfahrungen «lehren das Gehirn um». Mittels Entspannungsmethoden wird das zentrale Nervensystem entlastet. Auch eine Umgestaltung des Alltags kann einen positiven Einfluss auf Hormone und Körper haben. «In manchen Fällen kann eine medikamentöse Behandlung das Neuordnen im Gehirn mit unterstützen – wenn der Patient dies wünscht», so Egloff. Am wichtigsten sei einfach: «Hilfe suchen, wenn etwas nicht stimmt.»

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