Das Schmelzwasser wird uns fehlen
Reissende Flüsse und Überschwemmungen im Winter, Tiefststände und Wassermangel im Sommer: Der Klimawandel stellt die Schweiz vor neue Herausforderungen. Dies zeigt ein Bericht im Auftrag des Bundes mit massgeblicher Beteiligung der Universität Bern.
Glühende Hitze, Herbstlaub im Juli, rappelvolle Badeanstalten: Der Sommer 2003 ist uns als «Jahrhundertsommer» in Erinnerung geblieben. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird allerdings jeder zweite Sommer mindestens so heiss sein wie derjenige von 2003. Die Jahresdurchschnitts-Temperaturen steigen laut mittlerem Klimaszenario um 3 Grad. Das Bad in der Aare oder einem anderen Schweizer Fluss aber wird dann nicht mehr dasselbe Erlebnis sein wie heute: «Heute sind die Pegelstände etwa der Aare wegen dem Schmelzwasser im Juni und Juli am höchsten. Künftig wird im Sommer der Niedrigststand sein.» Dies sagte Professor Rolf Weingartner, Direktor des Geographischen Instituts der Universität Bern, am Freitag, 8. Juni vor den Medien.
Im Auftrag des Bundes hatten die Berner Forschenden gemeinsam mit Instituten der beiden ETH, der Universität Zürich und weiteren Partnern die Auswirkungen der Klimaänderung auf Wasserressourcen und Gewässer in der Schweiz untersucht. Die Resultate des Projekts «CCHydro» wurden an einer Tagung an der Universität Bern im Beisein von Bundesrätin Doris Leuthard präsentiert und diskutiert.

Schweiz bleibt Wasserschloss
Die Forschenden haben grundsätzlich gute Nachrichten für die Schweiz: Die Alpenrepublik wird das Wasserschloss Europas bleiben. Die (grosse) Menge an verfügbarem Wasser werde sich im Laufe dieses Jahrhunderts kaum verändern, halten sie im Bericht fest – «ganz im Gegensatz zu vielen Ländern des Südens, wo die Menschen künftig mit weniger Wasser auskommen müssen», wie Weingartner anmerkte.
Kaum etwas verändern wird sich laut dem Bericht in den kommenden zwanzig Jahren – abgesehen davon, dass die Flüsse wie bereits jetzt etwas mehr Wasser führen, weil die Gletscher abschmelzen. Die Schweiz hat also im Bereich Wasser etwas Zeit, Strategien zum Umgang mit den Folgen des Klimawandels zu entwickeln. Ab 2035 wird sich dann nämlich die Verteilung der Wassermengen über die Jahreszeiten stark verändern – und die Schwankungen vom einen Jahr zum nächsten werden viel grösser sein als heute. «Noch haben Schnee und Gletscher als Wasserspeicher eine grosse dämpfende Wirkung», erklärte Weingartner. Bis Ende des Jahrhunderts werden die als Schnee gebundene Wasserreserven jedoch um rund 40 Prozent abnehmen. Es fliesst also mehr Wasser bereits im Winter ab, während im Frühjahr und Sommer viel weniger Schmelzwasser die Flüsse speist. Das bedeutet für den Winter reissende Flüsse, für den Sommer ausgeprägte und lang anhaltende Niedrigwasserstände.
Mittelland, Wallis und Tessin besonders betroffen
Ab 2035 dürfte es in den Voralpen und Alpen häufiger mittlere, im Mittelland und Jura häufiger grosse Hochwasserereignisse geben. Im Sommer hingegen droht Wasserknappheit: Es wird heiss wie 2003, aber es gibt viel weniger Schmelzwasser, was Verteilkonflikte zwischen verschiedenen Nutzern auslösen kann.
Das Problem lokaler und regionaler Wasserengpässe vor allem im Mittelland, Tessin und Wallis wird akzentuiert durch die prognostizierte Abnahme der Regenmenge im Sommer. Im Winter dagegen dürfte es mehr Niederschläge geben. Die Niederschlagsprognosen seien allerdings noch mit grossen Unsicherheiten behaftet, räumte Weingartner ein – «der Temperaturanstieg und damit die abnehmenden Schnee- und Eismengen dagegen sind harte Fakten».
Bund arbeitet an Aktionsplan
Der Bericht zeige die Auswirkungen des Klimawandels im Bereich Wasser konkret und lokal für die einzelnen Regionen auf, würdigte Dominique Bérod, Chef Abteilung Hydrologie des Bundesamts für Umwelt (BAFU), die Arbeit der Forschenden. Damit liefere er wichtige Grundlagen für die Strategie des Bundes zur Anpassung an die künftigen klimatischen Bedingungen. Bundesrätin Leuthard sieht die Herausforderungen in den Bereichen Hochwasserschutz, Landwirtschaft, Wasserversorgung und Wasserkraft – und beruhigte gleichzeitig: «Wir werden sie meistern, wenn wir uns frühzeitig damit auseinander setzen und die nötigen Massnahmen einleiten». Anfang März hat der Bundesrat einen ersten Teil seiner Strategie zur Anpassung an den Klimawandel präsentiert – nun soll ein Aktionsplan folgen.

Stauseen als Wasserspeicher
Gedanken zu möglichen Massnahmen haben sich auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemacht. Wenn immer weniger Wasser in Form von Schnee in den Alpen gespeichert ist, könnte man die Stauseen vermehrt als Wasserspeicher einsetzen, empfiehlt Weingartner. Ausserdem sollten sich lokale Wasserversorger regional vernetzen, damit sie sich gegenseitig bei Engpässen aushelfen können. Als weitere Möglichkeiten nannte er das Erschliessen ungenutzter Wasserreserven – etwa in Seen – und das Abdichten lecker Leitungen. Zudem könnte die Nachfrage nach Wasser durch technische Massnahmen oder einen Preisaufschlag gedämpft werden. «Mit einem guten Wassermanagement sind die Probleme zu bewältigen», lautet auch Weingartners Fazit. Dass die nötigen Massnahmen nicht zum Nulltarif zu haben sind, daran erinnerte Bundesrätin Leuthard in ihrem Schlusswort zur Tagung.