Die Dramaturgie einer Seuche

Von der Hoffnungslosigkeit zur Nebensache: Die gesellschaftliche Bewältigung der Krankheit AIDS in der westlichen Welt war geprägt von der Stimme der Betroffenen. Bühne, Literatur und Film spielten gemäss Theaterwissenschaftlerin Beate Schappach eine wichtige Rolle.

Von Bettina Jakob 24. Mai 2011

Diese Bilder ängstigten die Welt: Fotos mit schwarzen Hautflecken zeigten anfangs der 1980er Jahre die offensichtlichen Krankheitsmale der ersten AIDS-Erkrankten. Die moderne Gesellschaft war verunsichert. Eine Seuche wie die Pest in der heutigen Zeit? Das Thema war auf einen Schlag in aller Munde. Die Berner Theaterwissenschaftlerin Beate Schappach hat in ihrer Dissertation nachgezeichnet, wie das Thema AIDS im deutschsprachigen Raum in Literatur, Theater und Film verarbeitet wurde. Sie zeigt die Chronologie von der Eskalation vor rund 30 Jahren bis zur Gegenwart auf – heute wird die Krise in der westlichen Welt dank wirksamen Therapiemöglichkeiten im Grossen und Ganzen als kontrolliert angesehen.


Plakate und Anzeigen der STOP AIDS-Kampagne ab 1987 bis heute. (Bilder: Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft)

Zeitungen und Autobiographien

«Am Anfang standen die Massenmedien», so die Forscherin: Aus den USA schwappten Meldungen über eine Seuche unter schwulen Männern nach Europa. Da die Krankheit damals vor allem unter Homosexuellen verbreitet und noch nichts über Ursache, Erreger und Ansteckung bekannt war, wurde AIDS zur Schwulenseuche abgestempelt. «Selbst seriöse Zeitungen in Europa schoben einer ungezähmten Lebensweise der Schwulen die Schuld zu», sagt Schappach. Vor dem Hintergrund der medizinischen Ratlosigkeit, wie die Krankheit zu behandeln sei, wurden über die Medien auch viele Angstszenarien verbreitet.

Fast gleichzeitig kamen die ersten Autobiographien in die Regale: Die Krankheitsgeschichten stammten teils von erkrankten Schriftstellern, teils von betroffenen Laien, die versuchten, sich ihr Leid von der Seele zu schreiben – und dieses war gross: Da in den 80er Jahren kaum Arzneimittel zur Verfügung standen, wurden die AIDS-Patienten aufgrund eines durch das HI-Virus verursachten Immundefekts geschwächt. Infektionen durch Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten plagten sie und führten langsam, aber sicher zum Tod. Einer der Autobiographen war auch der Berner Musiker Marc Philippe Meystre: Er schrieb seine Geschichte in «Andere Inseln Deiner Sehnsucht» auf, gab der Abkürzung der Krankheit AIDS einen neuen Sinn. Wie es gemäss Schappach viele taten, sie suchten Linderung und Ausflucht über sprachliche Strategien. Als 39-Jähriger stürzte sich Meystre schwerkrank von der Münster-Plattform.


Eingängige Werbung aus den frühen Jahren der AIDS-Problematik.

«Ohne Dings keim Bums»

Die ersten Theaterstücke mit dem Thema AIDS kamen zunächst aus Amerika – etwa das berühmte Drama «Angels in America» von Tony Kusher, welches später von Mike Nichols mit berühmten Darstellenden wie Meryl Streep verfilmt wurde. «In den USA war AIDS schneller als in Europa ein Thema, das in der Gesellschaft und eben auch auf Bühnen diskutiert wurde.» Beate Schappach sieht darin folgenden Grund: «Unter der eher abschottenden Politik Ronald Reagans, die eher eine Ausgrenzung der Betroffenen nährte, brachten vor allem Aktivistengruppen das Thema ins Gespräch.»

In der Schweiz, in Deutschland und in Österreich wurde AIDS sehr bald als gesundheitspolitisches Traktandum erkannt. Und nachdem das Virus Mitte der 1980er Jahre entdeckt worden war, begannen hierzulande schnell die Präventionskampagnen, die bis heute anhalten. «Ohne Dings, kein Bums» warb für den Gebrauch von Kondomen, «Safer sex» fand Eingang in das Alltags-Vokabular. Das epidemiologische Wissen darüber, was ansteckend ist und was nicht, erlaubte es, Regeln für ein sicheres Zusammenleben von Menschen mit und ohne HIV aufzustellen. «Ausserdem war nun klar, dass es jeden treffen kann, nicht nur Schwule», so Schappach.

Krankheit à la Hollywood

Der Integration der Krankheit lagen damit nicht mehr so grosse Steine im Weg. Der Film «Philadelphia» mit Tom Hanks und Antonio Banderas bot 1993 grosses Hollywood-Gefühlskino, das Hauptdarsteller Hanks als kranken Märtyrer darstellte, der unter einem Vorwand von seiner Anwaltskanzlei entlassen worden war. Was die Gesellschaft berührte, war aber vielen Schwulen und AIDS-Betroffenen zu kitschig und seicht. Es gab auch eine entgegen gerichtete Bewegung: In der Literatur bahnten sich auch Hass und Wut gegen AIDS ihren Weg zum Publikum, etwa in den Romanen des erkrankten Schriftstellers Hervé Guibert. Mitte der 1990er Jahre verhallten die zornigen Stimmen langsam: «Die ersten Kombinations-Therapien, die das HI-Virus im Zaume halten, kommen auf den Markt», so Schappach. War ein Mensch nun positiv getestet, war dies nicht mehr sein sicheres Todesurteil.

Und plötzlich Nebenthema

Die Dramaturgie des AIDS-Diskurses nahm damit abermals eine neue Wendung: In der Literatur bekam die Krankheit nun oftmals einen metaphorischen Charakter, sagt die Berner Forschende. Tim Staffel braucht in seiner Weltuntergangs-Fiktion «Terrordrom» AIDS etwa als Ausdruck einer kranken Gesellschaft. «Da das Thema nun nicht mehr so virulent war, konnte es in einem breiteren Kontext erscheinen», führt Schappach aus. Es tauchte in Verschwörungstheorien auf und um das Jahr 2000 gar in Comic-Bänden. In den letzten Jahren ist AIDS zu einem Nebenthema in der Gesellschaft abgedriftet: In einer Gerichtsserie aus den USA tritt HIV etwa als eines vieler schlechten Merkmale eines Verbrechers auf. «Was die Krankheit aber erneut als negatives Stereotyp darstellt», bedauert Schappach.

Bei AIDS spielte nahezu von Anfang an die Stimme der Infizierten und Erkrankten eine bedeutende Rolle, wie die Theaterwissenschaftlerin zusammenfasst. Dies, nachdem in den bisherigen Debatten um Seuchen in der westlichen Welt bisher vor allem die medizinischen Autoritäten, staatliche Institutionen, die Kirche und die Massenmedien das Wort ergriffen hatten. «Zur emotionalen und gesellschaftlichen Bewältigung der durch AIDS ausgelösten Krise trugen in besonderer Weise auch gerade Literatur, Theater und Film bei», so Schappach.

Infos der AIDS-Hilfe Schweiz

In der Schweiz wurden bisher insgesamt über 31'000 positive HIV-Testresultate gemeldet. Hierzulande leben heute rund 25'000 Menschen mit HIV und AIDS. Seit Beginn der Epidemie bis Ende Dezember 2009 wurden über 8'900 AIDS-Fälle gemeldet. 5815 Menschen sind an den Folgen gestorben. 2009 wurden 642 neue positive HIV-Testresultate gemeldet. Der Frauenanteil beträgt knapp ein Drittel, von allen Ansteckungen beruhen zirka 48 Prozent auf heterosexuellen Kontakten.