Wie du mir, so ich allen

Ein neues Modell liefert unerwartete Resultate: Berner Biologen zeigen auf, dass sich Altruismus gegenüber Fremden in einer Population durchsetzen und etablieren kann. Ein Prozess, den die darwinistische Selektionstheorie eigentlich ausschliesst.

Von Bettina Jakob 10. November 2010

Wie du mir, so ich Dir – eine gängige Regel, welcher die Menschen in ihrem Zusammenleben folgen: Hast Du mir beim Zügeln geholfen, dann werde ich wohl auch Dir helfen, die Gartenbeete umzugraben. Mit unseren kognitiven Fähigkeiten schätzen wir ab, wo eine eigens geleistete Hilfsaktion auch einen Gewinn für uns selber bedeutet. Denn Hilfe, ohne irgendwann Gegenhilfe zu erhalten – also reiner Altruismus –, kann sich gemäss Evolutionstheorie kaum oder nur unter bestimmten Umständen etablieren: Die genetische Fitness eines Gebenden verringert sich nämlich, wenn er nicht auch etwas zurückbekommt. Und so unterliegt der Selbstlose der natürlichen Selektion, die ihn mit tieferer Lebenserwartung, weniger Nachkommen, und letztendlich mit dem Aussterben seiner für die selbstlose Hilfsbereitschaft verantwortlichen Gene bestraft.

Ratte im Käfig
Eine Ratte zieht im Experiment Futter für ein anderes Tier im Käfig dahinter heran, ohne dafür belohnt zu werden. Sie tut dies, weil sie vorher von anderen Hilfe erhalten hat. Bild: Zvg

Menschen spenden für Wildfremde – warum?

Und dann vermelden amerikanische Medien plötzlich folgende Geschichte: Zahlreiche gesunde Menschen spenden eine ihrer Nieren an wildfremde Kranke – ohne dafür Geld, Ansehen, eine materielle oder immaterielle Entschädigung zu erhalten. Michael Taborsky vom Institut für Verhaltenökologie der Uni Bern will nun, gemeinsam mit Kooperationspartnern der Universitäten von Debrecen und Bristol, eine mögliche Erklärung für derartige Selbstlosigkeit gefunden haben: Ihr theoretisches Modell zeigt auf, dass sich in einer Population «generalisierte Gegenseitigkeit» stabil etablieren kann – allen Annahmen der darwinistischen Selektionstheorie zum Trotz. Dazu seien nicht einmal besondere Sozialstrukturen nötig und auch keine höhere Kognitionsleistung – dieser Altruismus lasse sich auch bei weniger hoch entwickelten Spezies finden. Die Resultate sind nun in den «Proceedings of the Royal Society London» veröffentlicht worden.

Modell baut auf einer einzigen Bedingung auf

Nach gängiger Theorie kommt altruistisches Verhalten allenfalls unter Verwandten vor: Diese tragen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nämlich auch die Gene, welche für eine erhöhte Kooperationsbereitschaft sorgen. Gegebenenfalls wird Altruismus noch in kleinen oder strukturierten Populationen funktionieren, in welchen die Chance hoch ist, einander wieder zu treffen – und so irgendwann für die geleistete Hilfestellung abgegolten zu werden.

Das neue Modell setzt hingegen nur eine Bedingung voraus, damit sich ein genereller Altruismus in einer Population durchsetzen kann: «Damit ein Individuum einem anderen hilft, muss es lediglich einmal selber Hilfe erhalten haben», so der Berner Verhaltensökologe. Dabei spielt aber keine Rolle, von wem die Unterstützung kam, die Sozialpartner begegnen sich im Modell stets zufällig. Durch die Erfahrung von Kooperation erhöht sich die Grund-Hilfsbereitschaft eines Individuums unmittelbar, ebenso wie verweigerte Hilfe die Kooperationsbereitschaft heruntersetzt. Da natürliche Selektion dafür sorgt, dass vorwiegend egoistisches Verhalten gefördert wird, muss man davon ausgehen, dass die Grund-Hilfsbereitschaft im Allgemeinen niedrig ist.

Der unmittelbare Effekt

Wie kann sich also generalisierte Gegenseitigkeit in diesem Umfeld etablieren? Der Schlüssel liegt gemäss Taborsky in der starken Reaktion auf verweigerte Hilfe: Wenn eine solche Diskriminierung die Hilfsbereitschaft der Betroffenen unmittelbar herabsetzt, wird im Allgemeinen nur sehr selten Hilfe geleistet werden – infolgedessen kommen auch die negativen Effekte des «Ausgenutzt-Werdens» kaum zum Tragen. Dadurch ist die Voraussetzung gegeben, dass sich auf genetischem Wege eine erfahrungsabhängige Hilfsbereitschaft in der Population etablieren kann. Heisst: Die Hilfsbereitschaft wird lediglich durch erhaltene Hilfe gesteigert. Ist diese Eigenschaft erst einmal weit verbreitet, können laut neuem Modell schon einzelne Ereignisse altruistischer Hilfe richtiggehend eine Kettenreaktion auslösen – nach dem Motto A hilft B, B hilft C, C hilft D, und so weiter.

Keine Kognition, aber Physiologie

«Erfährt ein Individuum Hilfe, erhält seine Grund-Hilfsbereitschaft einen positiven Impuls», erklären die Biologen die Annahmen ihres Modells. Geregelt würden derlei Reaktionen durch einfache neuronale und hormonelle Mechanismen. So steigere erhaltene Hilfe etwa die Ausschüttung des Neurotransmitters Oxytocin, was wiederum die Hilfsbereitschaft erhöhe, wie Studien an menschlichen Probanden zeigten. Derartige Regelkreise könnten die physische Grundlage der Modellannahmen darstellen, was gemäss Taborsky erklären würde, wie sich eine schnelle Reaktion auf die Hilfe-Erfahrung einstellen kann. «Unser Modell verlangt kein bewusstes Handeln und keine höheren geistigen Leistungen», fasst Taborsky zusammen, «die positive Erfahrung von anonymer Hilfe und ihr Effekt auf die Physiologie eines Individuums reicht aus, um sich einem Unbekannten gegenüber kooperativ zu verhalten». Damit können sich selbstlose Eigenschaften nicht nur beim Menschen erfolgreich etablieren, sondern auch bei Organismen verschiedenster Entwicklungsstufen – bis gar hinunter zu Einzellern und Bakterien. Die Forschenden haben in ihren Simulationen rund 200.000 Generationen durchgespielt, um die Evolutionsstabilität des Phänomens Uneigennützigkeit zu überprüfen.

«Unser Modell zeigt auf, dass auch beim Menschen Altruismus nicht rein kultureller Natur ist, sondern vielmehr eine evolutiv fundierte Eigenschaft», betont Taborsky. Diese Erkenntnis sei für das menschliche Selbstverständnis grundlegend – und könne unbelohnte altruistische Handlungen – wie eben die anonymen Organspenden in den USA oder die zig-tausenden Einträge in Wikipedia, die Personen zur Wissensvermittlung kostenlos und uneigennützig ins Internet stellen, erklären. Ganz nach dem Motto: Einer für alle.