Ruth Schweikert erinnert die Zeit
Ihre Erzählungen gehen unter die Haut, spinnen Fäden zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt, entblössen Erinnerungen, lüften und schaffen Geheimnisse. Die Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert trat an den «Literarischen Lesungen» der Uni Bern auf.
Pilatus. Dort hinauf hätte es eigentlich gehen sollen in Ruth Schweikerts kurzer Geschichte. Es ist eine von den «Sieben Surseer Geschichten», die kürzlich publiziert wurden, und welche die Autorin nun an den «Literarischen Lesungen» des Collegium generale der Uni Bern vortrug. Sursee, der Ort, wo die Autorin für ein paar Tage zu Gaste sass und schrieb, und der Ort, über welchen der Weg von Rheinfelden hinauf auf den Luzerner Hausberg geführt hätte – wäre ebendieser Ausflug von Emil S. und seinem Göttibuben Daniel P. im Sommer 1961 tatsächlich unter die Füsse genommen worden. Doch das Vorhaben fiel am Vorabend ins Wasser. «Daniel wurde ohne Essen ins Bett geschickt», liest Schweikert vor, und der Kontakt zum Götti, dem Bruder von Daniels Mutter, wurde ihm untersagt. Heute sei Daniel P. 55 Jahre alt, sitze in der Geschäftsleitung einer Immobilienfirma und sei bis jetzt noch nie auf dem Pilatus gewesen.
Ruth Schweikert liest – hier an der Abschlussfeier der WKS KV Bildung. (Bild: Thai Christen/zvg)
Und eines Tages nun, da habe ein Mann die Ich-Erzählerin angerufen, liest Schweikert weiter: «Er fragte, ob ich Emil S.’ Tochter bin.» Es war Daniel P., nach seinen Angaben ihr Cousin. Das sei anfangs September gewesen, aus dem Fenster ihres Surseer Arbeitszimmers hat die Erzählerin Bäume erblickt und den Marktplatz, auf dem eine «Chilbi» aufgebaut wurde. «Ob der Pilatus wohl zu sehen ist vom Riesenrad aus?», so Schweikert, und unten, «da wuchs das Gras, das fast über alles wächst mit der Zeit».
Motive führen zu neuen Motiven
Daniel P. weiss bis heute nicht, was er wohl gesagt hat, das den Ausflug scheitern liess. Und schliesslich auch zum Kontaktabbruch zu seinem Götti Emil S., heute 83-jährig, geführt hat. «Ob mein Vater sich erinnert?», fragt sich die Ich-Erzählerin in ihrer Geschichte. Ihr Vater, Emil S., war damals 34 Jahre alt, Anwalt, und seine Dissertation trug den Titel «Lehrfreiheit und Autonomie der Universität Basel». Sicher habe es die Mutter von Daniel P. gewusst. Ruth Schweikert springt in ihrer Surseer Kurzgeschichte von der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder zurück und noch weiter zurück: Sie lässt eine Geschichte aus dem Mittelalter einfliessen, über einen Hans von Waldheim, der auf seiner Pilgerreise durch «Sursehe» kam, und in einem alten Gasthaus Halt machte. Dieses beherbergt im heutigen Sursee, 536 Jahre später, zwei Bars, die nur Menschen ab 18 Jahren Eintritt gewähren. Und mit diesem Einschub verrät uns die Autorin auch gleich ihre Vorgehensweise: «Ich arbeite mit bestimmten Motiven, die mich nicht loslassen, und diese bringen eine Reihe von weiteren Motiven mit sich, die auch angeschaut werden wollen.»
Die Zeit im Leben eines Menschen
Ruth Schweikert interessiert, «was passiert, wenn eine Geschichte erzählt wird, die eigentlich nicht erzählt werden sollte». Etwa die Einstiegserzählung «Port Bou» ihres ersten Werkes von 1994 «Erdnüsse. Totschlagen». Die Geschichte beschreibt den Missbrauch einer Frau durch ihren Vater und schliesslich ihre Befreiung daraus. «Ein Ausdruck des Widerstands gegen das schicksalhafte Leiden von Menschen», wie Literaturwissenschaftler Peter Rusterholz an der Lesung die Intention der Autorin zusammenfasste. Im Roman «Augen zu» (1998) sagt Hauptperson Aleks zu ihrem Geliebten: «Wir werden ein Kind haben, aber erst verlieren wir eines.» In «Ohio» (2005) scheitert die Ehe von Merete und Andreas nach neun Jahren, und Schweikert lässt Erinnerungen aufleben, wie alles begonnen hatte, bevor sich Andreas schliesslich im Meer ertränkte. Das Futter für ihre Erzählungen sei «das Rätsel der menschlichen Existenz», so Schweikert, und vor allem, «wie sich die Zeit im Leben einer Person zeigt».
Und aus der Zeit kann vieles wachsen, wie sie selber erfahren hat: Sei sie doch aufgewachsen in einer Familie mit vielen Geheimnissen, sagte Ruth Schweikert im vollen Berner Hörsaal – mit verheimlichter Halbschwester, und ja, sogar mit einem Gefängnisaufenthalt eines Familienmitglieds: Dieses Ereignis nimmt die Schriftstellerin in ihrem neuen, noch unfertigen Roman «Was bisher geschah» auf: Ein Mädchen steht vor Vaters Kleiderschrank und «weiss plötzlich, dass er nie mehr kommt, dass er tot ist, weil Tote keine Kleider brauchen». Im Laufe der Jahre könnten Tabus sich auflösen, so Schweikert. Die Zeit könne «einen die Dinge anders sehen lassen als früher». Und so gingen heute Verwandte von ihr miteinander wandern, die sich einst nur eisernes Schweigen schenkten.
Keine autobiographischen Texte
Der eigene Vater in der Figur des Götti, ihre Halbschwester als Halbschwester im neuen Roman, ein Häftling in der Familie: Von autobiographischen Texten will Ruth Schweikert dennoch nichts wissen. «Es interessiert mich nicht, über mich selber zu schreiben, aber als Schreibende kann ich mich nur über etwas äussern, was mich bewegt», erklärt sie die persönlichen Einflüsse in ihren Erzählungen. Und so schreibt sie eben auch über den Daniel P., ihren Verwandten, der vor 49 Jahren nicht wie geplant auf dem Pilatus war und nicht weiss, warum. Schweikert weiss es auch nicht, nur dass, sollten Emil S. und Daniel P. heute doch noch auf den Berg steigen, der Weg nicht über Sursee führen würde. Und das ist das Ende der Geschichte, «die erzählt wird, so gut es geht».
Zur Person
Ruth Schweikert wurde 1965 in Lörrach geboren und ist in Aarau aufgewachsen. Heute wohnt sie mit ihrer Familie in Zürich. Ihr literarischer Erstling, der Erzählband «Erdnüsse. Totschlagen» (1994) sorgte im In- und Ausland für Aufsehen. Ihre Romane «Augen zu» (1998) und «Ohio» (2005) bestätigten ihr Können. 2006 erschien «Hin und Her», ein Dialog zwischen Schweikert und Peter Radelfinger. Zurzeit arbeitet die Autorin an ihrem neuen Roman «Was bisher geschah». Ruth Schweikert gewann mehrere Stipendien sowie den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.