Wie Tumorzellen das Immunsystem austricksen
Ein Tumor wuchert, und das Immunsystem lässt es geschehen. Der Berner Pharmakologe Stephan von Gunten hat neue Wege herausgefunden, wie Tumorzellen die natürlichen Kontrollmechanismen des Immunsystems ausnutzen, um der Abwehr zu entgehen. Er erhält dafür den Forschungspreis des Departements Klinische Forschung der Uni Bern.
Im menschlichen Körper tobt tagtäglich ein heftiger Kampf, der mit allen Mitteln geführt wird: Abwehrzellen des Immunsystems zerstören Eindringlinge wie Bakterien, Viren und auch Tumorzellen. Diese Mikroorganismen wiederum täuschen und tricksen, um den Attacken des Immunsystems zu entgehen. Wie gelingt es den Tumorzellen, die Abwehr schachmatt zu setzen, um ungehindert wuchern zu können? Stephan von Gunten vom Institut für Pharmakologie hat einen vielversprechenden Ansatz zum besseren Verständnis in Gestalt der Siglec-Rezeptoren entdeckt. Dafür wird der junge Pharmakologe mit dem diesjährigen Forschungspreis des Departements Klinische Forschung der Universität Bern ausgezeichnet.
Der Preisträger Stephan von Gunten untersucht im Labor, wie Tumore mit den Abwehrzellen des Immunsystems interagieren. (Bild: Salomé Zimmermann)
So werden die Abwehrzellen kontrolliert
Um es vorweg zu nehmen: Die Tumorzellen missbrauchen einen körpereigenen Mechanismus, der das Immunsystem kontrolliert. «Das menschliche Abwehrsystem ist eine unglaublich starke Waffe im Kampf gegen schädliche Eindringlinge», erklärt Stephan von Gunten. Gerade weil es so schlagkräftig ist, muss es jedoch auch im Zaum gehalten werden. Denn: «Wenn die Immunreaktion zu heftig ausfällt oder zu lange andauert, kann körpereigenes Gewebe geschädigt werden.» Dies ist zum Beispiel bei allergischen oder autoimmunen Erkrankungen der Fall. Die Regulation des Immunsystems geschieht, so von Gunten, unter anderem durch sogenannte Siglec-Rezeptoren. Diese Rezeptoren «sitzen» auf den Abwehrzellen und können via Schlüssel-Schloss-Prinzip externe Signale aufnehmen und ins Zellinnere leiten. So werden Abwehrzellen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, gehemmt oder der natürliche Zelltod wird eingeleitet. «Die Stimulation der Siglec-Rezeptoren könnte helfen, eine überschiessende schädliche Immunantwort – wie bei einer allergischen Entzündung – zu verhindern», erläutert Stephan von Gunten. Die Siglec-Rezeptoren sind also ein wichtiger Bestandteil der körperlichen Abwehr, da sie das Immunsystem kontrollieren.
Stephan von Gunten und seine Forschungsgruppe haben nun auch Hinweise darauf entdeckt, dass Tumorzellen diese Rezeptoren missbrauchen, um der Abwehr zu entkommen. Die Tumorzellen erscheinen mit bestimmten Imitaten von Zuckermolekülen an ihrer Oberfläche, mit denen sie an den Siglec-Rezeptoren andocken können. Sobald dies geschehen ist, schicken die Tumorzellen via Siglec-Rezeptoren das Signal zur Abwehrhemmung. Bildlich gesprochen erhält der Soldat – in diesem Fall die Abwehrzelle – dann den Befehl, mit dem Kampf aufzuhören. Solchermassen entwaffnet, vernichtet das Immunsystem die Tumorzellen nicht mehr und lässt den Feind gewähren – die Tumorzellen wuchern ungehindert weiter.
Die Tumorzelle (grün) hemmt mit Hilfe von molekularen Zuckerstrukturen (rot) via Siglec-Rezeptoren die Abwehrzellen (violett). (Illustration: Aldona von Gunten)
Geschützt im Zuckermantel
Um diesen Vorgang wissenschaftlich zu belegen und die Mechanismen genauer zu verstehen, braucht es noch einige Arbeit, die der Forschungspreis von 30'000 Franken massgeblich erleichtert. «Die Auszeichnung kommt zur richtigen Zeit und erlaubt uns, breiter zu forschen», freut sich Stephan von Gunten. Im Labor lässt der Mediziner bei Versuchen Abwehr- und Tumorzellen aufeinander treffen und beobachtet und analysiert, was dann passiert. Der Wissenschaftler will auch herausfinden, welche Rolle Zuckerstrukturen im Immunsystem spielen, und wie es den Tumorzellen und auch einigen Bakterienarten gelingt, Zuckermoleküle zu imitieren oder zu stehlen und so die Siglec-Rezeptoren zu täuschen.
«Wir wollen wissen, ob und wie sich die Tumorzellen tatsächlich mit einem Zuckermantel schützen, um dem Immunsystem zu entgehen», so von Gunten. Um besser zu begreifen, wie das Immunsystem von schädlichen Mikroorganismen ausgehebelt werden könne, brauche es zudem eine noch bessere Kenntnis von dessen Funktionieren. Letztlich dient von Guntens Forschung dazu, dereinst schonendere medikamentöse Verfahren zu entwickeln, um Tumore zu verhindern oder zu behandeln.