Der verlorene Raum und der Gewinner

Neglekt-Betroffene nehmen die eine Seite des Raums nicht mehr wahr: Der Genfer Neurologe Patrik Vuilleumier erhält für seine Forschung im Bereich der Raumwahrnehmung im Gehirn den diesjährigen Hans-Sigrist-Preis von 100'000 Franken.

Von Bettina Jakob 05. Dezember 2009

Sie haben ihre halbe Welt verloren: Patientinnen und Patienten mit dem «Neglekt-Syndrom» können nur noch eine Seite ihrer Umgebung wahrnehmen. Meistens kann ihr Gehirn die linke Seite nicht mehr interpretieren – obwohl sie visuell nicht beeinträchtigt sind: Die Betroffenen essen nur die Speisen auf der rechten Seite des Tellers, und meinen, sie hätten alles aufgegessen. Die Bartstoppeln werden auf der rechten Wange wegrasiert, auf der linken bleiben sie stehen. Sie bekleiden nur die rechte Seite des Körpers und lesen die linke Seite der Zeitung nicht, wie Patrik Vuilleumier in einem Übersichtsartikel die Symptome dieser neurologischen Störung zusammenfasst.

 


Das sind Zeichnungen von Neglekt-Betroffenen: die linke Seite kaum wahrgenommen und auch nicht abgebildet. (Bild:zvg)

Der Genfer Neurologe untersucht in seinen Studien, wie diese Aufmerksamkeitsstörung bei Betroffenen gegenüber der einen Seite ihrer Umgebung und ihres Körpers zustande kommt. Die Hans-Sigrist-Stiftung verleiht dem Arzt und Grundlagenforscher den jährlichen, mit 100’000 Franken dotierten Hans-Sigrist-Preis (siehe Kasten). Am gleichnamigen Symposium an der Uni Bern stellte Vuilleumier seine Forschung vor.

Raum im Gehirn – eine komplexe Interpretation

Ein Neglekt tritt am häufigsten nach einem Infarkt in der rechten Hirnhälfte – welche ja die Aufmerksamkeit auf den linken Raum richtet – oder er wird durch eine Durchblutungsstörung der mittleren Gehirnarterie verursacht. Durch diese Schädigung können verschiedene Gehirnareale betroffen sein, die offenbar für die räumliche Wahrnehmung wichtig sind. Normalerweise halten sich die beiden Hirnhälften in ihren Aktivitäten im Gleichgewicht. Diese Balance fällt bei einer Schädigung der einen Hirnhälfte weg und die gesunde wird aktiver als vor der Verletzung: Die Konzentration auf den Raum, welchen die intakte Hirnhälfte interpretiert, wird verstärkt – die andere Welt fällt weg, wird nicht mehr wahrgenommen. In vielen Fällen ist auch Monate nach der Schädigung die Symptomatik noch vorhanden.

«Das neurologische Neglekt-Syndrom lehrt uns immer besser zu verstehen, wie Raum im menschlichen Gehirn repräsentiert wird», so Vuilleumier. Der Raum, der uns umgibt, habe zwar klar definierte drei Dimensionen, aber der Mensch könne ihn in ganz verschiedene Regionen von abgestufter Wichtigkeit einteilen. Diese Interpretationen würden durch separate Abbildungen im Gehirn hervorgerufen, schreibt Vuilleumier. So können zum Beispiel nahe und ferne Objekte zwar auf den gleichen Bereich der Augen-Netzhaut auftreffen, vom Gehirn aber völlig anders eingestuft werden.

Preis für «innovative» Studien

Welche Interpretationswege für die Raumwahrnehmung bei Neglekt-Betroffenen schliesslich unterbrochen sind und zu diesen klinischen Symptomen führen, versucht der Forscher an seinem «Laboratory of Neurology and Imaging of Cognition» am Universitätsspital Genf herauszufinden. Mit seinen innovativen Studien, in welchen er klinische Methoden – etwa die Magnetresonanztomographie – mit Psychophysik verband, sei er zu neuen Einsichten in den neuronalen und kognitiven Grundlagen des räumlichen Neglekts und in die Mechanismen des unbewussten Verarbeitens räumlicher Informationen bei Betroffenen gelangt, schreibt die Hans-Sigrist-Stiftung in ihrer Laudatio.

 

Der Hans-Sigrist-Preis

Jährlich vergibt die Hans-Sigrist-Stiftung den mit 100’000 Franken dotierten Preis. Der Stiftungsrat wählt aus verschiedenen Vorschlägen aus seiner Mitte das Wissenschaftsgebiet fest, aus welchem eine international abgestützte Expertenkommission Forschende – aus dem In- und Ausland – nominiert. Der Stiftungsrat entscheidet schliesslich überr die Vergabe und am Hans-Sigrist-Symposium stellt der Gewinner seine Arbeit der Öffentlichkeit vor. Die Veranstaltung findet jeweils einen Tag vor dem «Dies academicus», der Stifungsfeier der Uni Bern, statt, an welchen neben den Ehrendoktoren und anderen Geehrten auch der Hans-Sigrist-Preisträger seinen Preis erhält. Das Geld kann der Gewinner oder die Gewinnerin nach freiem Ermessen verwenden.

Zur Webseite der Hans-Sigrist-Stiftung 

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