Homers Verse entspannen Herz und Geist
Eine Stunde aus Homers Odyssee rezitieren und sich ausgeschlafen fühlen? Das funktioniert gemäss Dietrich von Bonin von der Kollegialen Instanz für Komplementärmedizin der Uni Bern tatsächlich. Atmung und Puls synchronisieren sich dabei wie im traumlosen Tiefschlaf.
Erst die Sirenen, die ihn mit schaurig-schönem Gesang ins Verderben ziehen wollen, dann die Irrfelsen, die sein Schiff zu zerschellen drohen: Die Abenteuer des Odysseus sind aufregend, wild und gefährlich. Beinah unglaublich, dass Homers Verse über den griechischen Helden einen entspannenden Effekt auf Herz und Gemüt haben können: Rezitiert man das Gedicht der Odyssee in ihrer Versform, dem Hexameter, kann man sich nämlich wunderbar erholen. Dietrich von Bonin von der Kollegialen Instanz für Komplementärmedizin der Uni Bern hat herausgefunden, dass die sechs Versfüsse einer Zeile – mit jeweils einer betonten und zwei folgenden unbetonten Silben – eine Metrik haben, die sich auf den Atem- und Herzrhythmus auswirken: «Die beiden Rhythmen synchronisieren sich, ähnlich wie in der traumlosen Tiefschlafphase», so der Kunsttherapeut – das verspricht eine gute Regeneration des Körpers.

Erholung mit «OM» und Rosenkranz
Der menschliche Körper organisiert seine Systeme gemäss von Bonin in Rhythmen – wie wir an Atmung und Puls gut wahrnehmen können. Diese beiden Systeme können in unabhängigem Takt funktionieren, sich aber auch angleichen. «Im ruhigen Liegen etwa bildet der Herzrhythmus die Atmung ab», so von Bonin. Eine Synchronisation der beiden Rhythmen findet nun auch statt, wenn Probanden eine Stunde lang Hexameter-Verse im langsamen Gehen nachsprechen.
Eine Untersuchung mit 20 Testpersonen hat gezeigt, dass sich Atemfrequenz und Blutfluss sowie Blutdruck und Herzschlag während des Experiments synchronisieren. Erstaunlich ist gemäss von Bonin, dass dieser Effekt bei der Kontrollgruppe nicht stattfand, die zwar nicht Hexameter rezitierte, wohl aber im Takt atmete. Ähnliche Ergebnisse wie Homers Odysse ergibt nach von Bonins Untersuchungen auch das Nachsprechen von «OM», der Silbe aus dem bedeutendsten tibetischen Mantra in Sanskrit. Auch wer den Rosenkranz betet, soll diesen Effekt erfahren.
Sprachtherapie seit über 80 Jahren
«Je tiefer und langsamer die Atmung, umso stärker die Wirkung auf den Herzrhythmus», sagt Dietrich von Bonin. Neben der beobachteten Synchronisation kann die Hexameter-Rezitation und der damit verbundene Atemrhythmus auch die Variabilität der Herzfrequenz beeinflussen: Schlägt das Herz mal langsamer und wieder schneller, kann sich dies positiv auf die Gesundheit des Herzens auswirken. Auch fühlen sich die Probandinnen und Probanden nach Homer- oder Mantra-Rezitation besser als vorher: Frischer, wacher, ruhig und klar wird der Zustand nach den Versen beschrieben.
Für den Kunsttherapeuten von Bonin ist klar, dass das Nachsprechen geeigneter Verse aufgrund des beobachteten Effektes bei somatischen und psychischen Störungen eingesetzt werden kann. «Die therapeutische Sprachgestaltung ist eine Therapiemethode der anthroposophischen Medizin und wird seit über 80 Jahren praktiziert», so von Bonin. Sie könne den «optimierten Energiehaushalt und Stressabbau» unterstützen.