Sans-Papiers – Die Schatten unter uns
Menschen ohne Aufenthaltsrecht leben und arbeiten unter uns. Dennoch existieren sie offiziell nicht. Angst ist ihr ständiger Begleiter und sie bewältigen ihren Alltag im Schatten der Gesellschaft. Der Berner Sozialanthropologe Raphael Strauss hat sich in seiner Lizentiatsarbeit mit den Problemen von «Sans-Papiers» befasst.
Maria ist 37 Jahre alt, ledig und stammt aus Kolumbien. Seit 1996 lebt sie in der Schweiz, putzt in Privathaushalten und führt ein unauffälliges Leben. Maria hat keine Aufenthaltsbewilligung – sie ist eine Sans-Papiers. Wirtschaftliche Gründe führten sie einst in die Schweiz. Das verdiente Geld schickt sie in ihre Heimat, um dort ihrer Tochter eine Ausbildung zu ermöglichen. Maria ist eine von schätzungsweise 100’000 Sans-Papiers, die in der Schweiz leben; die Dunkelziffer fällt höher aus. Wer sind diese Menschen, die im Schatten unserer Gesellschaft leben? Mit welchen Problemen setzten sie sich auseinander? Antworten darauf gibt der Sozialanthropologe Raphael Strauss in seiner Arbeit «Sans-Papiers: Lebensqualität & Handlungsstrategien. Eine deskriptive Studie illegalisierter MigrantInnen in der Region Bern».

Die Tage sind lang, ermüdend und manchmal sehr hart. (Bild: Thierry Kleiner/zvg)
«Die sind doch alle kriminell»
«Sans-Papiers sind Menschen, die illegal in ein Land einreisen und ihre Papiere an der Grenze wegwerfen.» Dieses Vorurteil, sagt Strauss, habe er oft gehört. Die Bezeichnung «Sans-Papiers» bezieht sich aber auf die fehlende Aufenthaltsbewilligung und nicht auf die Identitätspapiere. Das heisst gemäss Strauss: «Kein Mensch ist illegal: Lediglich der Aufenthaltsstatus eines Menschen kann ungesetzlich sein, nicht jedoch der Mensch selbst.» Sans-Papiers bilden eine sehr heterogene Gruppe, hinter jedem «Fall» steht eine persönliche Geschichte und eine individuelle Lebensrealität, wie Strauss in seinen Interviews erfahren hat. «Das sind Menschen, die ihre Aufenthaltsbewilligung wegen Scheidung, Tod des Ehepartners oder Arbeitslosigkeit verloren haben. Flüchtlinge, die erfolglos ein Asylverfahren durchlaufen haben. Oder Saisonniers, die nach der Gesetzesänderung keine Verlängerung ihres Aufenthalts erhielten und trotzdem in der Schweiz geblieben sind.»
Einzig die prekäre Aufenthaltssituation haben alle Sans-Papiers gemeinsam. «Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Sans-Papiers, die schon lange in der Schweiz leben und denen, die erst seit kurzer Zeit hier sind», betont der Sozialanthropologe. Die beiden Gruppen haben mit teilweise unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Die zweite, die zu einem grossen Teil aus abgewiesenen Asylsuchenden besteht, sieht sich mit mehr Belastungen und Problemen konfrontiert: Arbeitslosigkeit und das «Nichtstun», fehlende Strukturen, keine sozialen Netzwerke und kein Geld sind eine permanente psychische Belastung für die Betroffenen – sie haben nichts.
Sicherheit ist wichtig
«Die Bewegung im öffentlichen Raum erweist sich als eine der grössten Herausforderungen für die Betroffenen», erklärt Strauss. Sicherheit hat oberste Priorität und deshalb versuchen diese Menschen möglichst unauffällig zu leben: Sie meiden öffentliche Plätze, denn dort werden oft Kontrollen durchgeführt. Sie knüpfen nur sehr vorsichtig soziale Kontakte, denn es ist schwierig, jemandem zu vertrauen. «Gleichwohl gelten soziale Netzwerke als grundlegende Pfeiler ihrer Alltagsgestaltung», betont Strauss. Im Alltag sehen sich Sans-Papiers mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert: Die Bereiche Arbeit, Lebensunterhalt, Wohnsituation und Freizeit sind problematisch, und die physische und psychische Gesundheit wird stark beansprucht. «Die ständige Angst, von der Polizei aufgegriffen und ausgeschafft zu werden, die schlechten Arbeitsbedingungen, das Ausgeliefertsein gegenüber Arbeitgebern sowie die permanente Unsicherheit prägen das Leben von illegalisierten Menschen», so Strauss. Und trotzdem gebe es unter den Sans-Papiers viele Überlebenskünstler, die ihre Situation gut meisterten.

Symbolische «Passübergabe» an Sans-Papiers. (Bild: Thierry Kleiner/zvg)
Unsichtbar, aber für die Arbeit unverzichtbar
Sans-Papiers sind eine Erscheinungsform der Migration, die mit dem Arbeitsmarkt verbunden ist. «Viele Sans-Papiers erledigen Arbeiten, die sonst niemand tun will, da sie beschwerlich, unangenehm und oft schlecht bezahlt sind», so der Berner Sozialanthropologe. Dessen ungeachtet ist Arbeit für die Sans-Papiers zentral, denn sie ermöglicht ihnen einerseits die Finanzierung des Lebensunterhalts und andererseits eine geregelte Tagesstruktur. Viele Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung tolerieren unsichere Arbeitsbedingungen und teilweise ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, da sie oftmals ihre Rechte nicht kennen. «Aber auch wer ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz lebt, hat grundlegende Rechte», betont Strauss. Grund- und Menschenrechte gelten für alle.
Das Schicksal selbst in die Hand nehmen
«Kraft und Mut zur Alltagsbewältigung kann aus persönlichen Ressourcen geschöpft werden.» Diesen Schluss zieht Strauss aus den Gesprächen mit den elf Sans-Papiers: Eine positive Grundeinstellung zum Leben, die Selbstwahrnehmung als handlungsfähige Person, der Glauben oder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft seien wertvolle Stützen. Der Kontakt zu Organisationen, wie beispielsweise Sans-Papiers-Kollektive oder Beratungsstellen der grösseren Kantone, könne auch hilfreich sein, denn sie verleihen den Sans-Papiers eine Stimme. Dort würden sie angehört und gegen aussen vertreten – also sichtbar gemacht.