Politiker sind oft zu stur
Schlagabtausch im Parlament: Eine Studie der Rechts- und Poltikwissenschaften der Uni Bern zeigt, dass eine beratende, konstruktive Politik in unserer Regierung eher Seltenheitswert hat. Gerade Wahlkampfthemen werden zum parteipolitischen Hickhack missbraucht.
Das idyllische Wandgemälde vom Rütli über den Ufern des Vierwaldstättersees im Nationalratssaal vermag nicht darüber hinwegzutäuschen: Im Schweizer Parlament findet oftmals nur parteipolitischer Hickhack statt, Parolen werden hin- und hergeschleudert. «Die Politikerinnen und Politiker am Rednerpult hauen sich einfach ihre vorgefassten Meinungen um die Ohren», sagt Politikwissenschaftler André Bächtiger. Die Fraktionsvertreter machen ihre Positionen klar, ohne auf die Argumente der gegnerischen Fraktionen einzugehen – und schon wird abgestimmt. So wird meistens politisiert im Schweizer Nationalrat, wie Studien des neuen BIDS-Centers an der Uni Bern («Bern Interdisciplinary Center for Deliberative Studies», siehe Kasten) zeigen.

Politik nach Parteibüechli
«Demokratisch und formell ist dieses Vorgehen zwar korrekt, aber politisch ist es unbefriedigend», stellt Rechtsphilosoph Axel Tschentscher fest. Zusammen mit Bächtiger untersucht er, ob im Schweizer Parlament und in den Kommissionen überhaupt jemals so genannte deliberative Demokratie stattfindet: Eine Politik, in der «die Politikerinnen und Politiker zusammensitzen und zusammen in der Diskussion die für das Gemeinwohl beste Lösung suchen und nicht nur ihr Parteibüchli durchboxen», so Tschentscher. Erste Analysen von Parlaments- und Kommissionsdebatten zeigen: Ab und zu ist es möglich – allerdings nicht gerade häufig.
Rund 5000 Wortmeldungen analysiert
Zu diesem Schluss kommt eine Analyse der Wortmeldungen von Kommissionsmitgliedern und Nationalrätinnen in verschiedenen Debatten. Bächtiger erklärt die methodische Erhebung der Daten: Die Protokolle der Sitzungen, die für wissenschaftliche Zwecke eingesehen werden dürfen, wurden nach bestimmten Faktoren untersucht – zum Beispiel nach «respektvollem Umgang» und «Begründungsniveau». Unter dem Strich der bisher 16 analysierten Politthemen der 1990er Jahre und rund 5000 untersuchten Rednerinnen und Rednern lässt sich gemäss Axel Tschentscher folgende Tendenz erkennen: Je weniger ein Thema polarisiert, umso eher sind die Politikerinnen und Politiker bereit einander die Hand zu reichen. «Am schlimmsten ist der Hickhack bei den Wahlkampfthemen», so Bächtiger – bei diesen sei praktisch keine beratende Debatte möglich. Bei moralischen Themen wie etwa der Abtreibungsvorlage «reissen sich die Damen und Herren im Bundeshaus aber eher zur Kooperation zusammen».

In Deutschland noch schlimmer
«Die deliberative Demokratie, an welcher alle in einer öffentlichen Diskussion teilhaben, ist die Idealvorstellung von politischer Entscheidungsfindung», führt Rechtsphilosoph Tschentscher aus. Allerdings auch eine utopische: Die Polittheoretiker gehen nämlich davon aus, dass ein Diskurs über ein Thema eigentlich nur in der Gesellschaft stattfindet, und, sobald dieses in eine Institution – hier also in die Kommission und ins Parlament gelangt –, nur noch dem Schlagabtausch unterliegt. «Die Schweiz liegt mit ihrer Kultur des Politisieren aber bei den Besten», stellt André Bächtiger klar. In Deutschland oder England sei der diskursive Charakter in der Debatte kaum zu finden. Nur 5 Prozent der deutschen Politikerinnen und Politikern halten sich an den respektvollen Umgang, in der Schweiz sind es immerhin 15 Prozent. Und ein sturer Kopf ist gemäss Bächtiger hierzulande jeder Fünfte, in den USA und England jeder Dritte.
Tendenz: Aggressiver und härter
Dennoch schaut André Bächtiger mit einem Stirnrunzeln auf die derzeitige Entwicklung auf dem Schweizer Politparkett. «Der Respekt hat in den letzten Jahren abgenommen.» Durch die zunehmende Oppositionspolitik würden die gesellschaftlichen Probleme stark politisiert – und durch das Auseinanderklaffen der Parteien vermehrt polarisiert. Die frühere Konstellation in der Schweizer Regierung mit der eher oppositionellen Linksgrünen und den Regierungsparteien FDP und CVP und einer bauernfreundlichen SVP ist dem «harten, konfrontativ-aggressiven Kurs gewichen, den der Zürcher Flügel der SVP aufgezogen hat», so Bächtiger.
Was tun die Schweizerinnen und Schweizer?
Viel Polemik schwächt denn auch eine deliberativen Demokratie: «Eine Oppositionsregierung steht einer konstruktiven Lösungsfindung oft im Wege», so Bächtiger. Was leide, sei unter dem Strich das Gemeinwohl. Darum – so Tschentscher, sei es wichtig, dass die ganze Gesellschaft Politik macht. Ob die Bürgerinnen und Bürger aktiv an der Meinungsbildung teilnehmen, soll eine nächste Studie von BIDS zeigen – in experimentellen Chatrooms.
Weiterführende Links
«Bern Interdisciplinary Center for Deliberative Studies»
bj. Das BIDS («Bern Interdisciplinary Center für Deliberative Studies») an der Uni Bern widmet sich mit interdisziplinären Studien der deliberativen Demokratie und ihrer Erforschung. Das Zentrum ist eine informelle Kooperation von Prof. Axel Tschentscher, Dr. André Bächtiger, Prof. Marco Steenbergen und Prof. Jürg Steiner. Sein Ziel ist die bessere interdisziplinäre und internationale Vernetzung der einzelnen Forschungsprojekte zur deliberativen Demokratie. Derzeit arbeiten 10 Mitarbeitende an den Teilprojekten des BIDS. Mit einem neuen Projekt soll die BIDS-Forschung auch im Rahmen des NCCR Democracy vertieft werden.