Forschung, die an den Nerven(-zellen) zerrt

Das Gehirn funktioniert noch komplexer als angenommen: Der Physiologe und Theodor-Kocher-Preisträger Matthew Larkum entwickelt eine Technik, die Reize an den kleinsten Hirnstrukturen misst. Am Freitag hält er einen Vortrag an der UniS.

Von Bettina Jakob 18. Januar 2007

«Ausgerollt sähe sie etwa aus wie ein Pizzateig.» Der Neurophysiologe Matthew Larkum lacht über seinen Vergleich, steckt doch in der Grosshirnrinde einiges mehr als Mehl und Wasser: Sie überzieht das ganze Gehirn mit einer rund 5 Millimeter dicken Schicht von Nervenzellen. Rund 14 Milliarden Neuronen verarbeiten dort ständig hereinflutende Informationen unserer Sinnesorgane und leiten Signale wie Farben, Formen, Sprache zu den zuständigen Hirnarealen weiter. «Erst durch die Leistung der Grosshirnrinde sind wir in der Lage, die Umwelt wahrzunehmen», erklärt Larkum. Der Forscher und Professor aus Australien hat kürzlich den Theodor-Kocher-Preis der Uni Bern gewonnen – für seine Arbeiten zur Signalregistrierung an den Gehirn-Nervenzellen. Und jetzt wartet er schon wieder mit neuen Erkenntnissen in der Hirnforschung auf.


Den Berner Forschern gelingt es, an feinsten Strukturen einer Nervenzelle mittels Elektroden Signale zu messen. (Bilder:zvg)

Die Reaktion ist anders als erwartet

Matthew Larkum zerschlägt jegliche Hoffnung auf eine einfache Physiologie-Stunde gleich zu Beginn: «Die Ergebnisse machen alles noch komplexer, als es bereits ist.» Und die Ausgangslage klingt schon anstrengend: Larkum forscht an Nervenzellen, den spezialisierten Pyramidenzellen, von denen jede über ein Netzwerk mit 10’000 anderen Neuronen verbunden ist. Die Berner Physiologen haben nun herausgefunden, dass die Dendriten – jene dünnen fadenförmigen Fortsätze der Nervenzellen, welche das dichte Netzwerk in der Grosshirnrinde bilden –, bei der Signalübertragung variabler reagieren als angenommen.

Bisher gingen die Spezialisten davon aus, dass ein Dendrit elektrische Signale, die von einer Nachbarzelle auf ihn übertragen werden, an das Soma, den Hauptzellkörper eines Neurons weiterleitet. Scheinbar sinnvoll, da das Soma der Hauptschalter der Nervenzelle ist und schliesslich die Entscheidung fällt, ob ein eingegangener Reiz tatsächlich an die nächste Zelle weitergegeben wird oder nicht – und zum Beispiel eine Bewegung oder eine Erinnerung auslöst (siehe Kasten).


Eine Nervenzelle in drei Bildern: (v.l.) Eingefärbte Zelle unter dem Mikroskop, Elektroden an einer Nervenzelle, Grössenvergleich mit einem Menschenhaar. 

Neuartige Methoden aus dem Berner Labor

Larkums Messungen malen nun ein ganz anderes Bild: Manchmal geben die Dendriten ein Signal nicht weiter oder nur abgeschwächt. «Der Dendrit ist nicht mehr nur passiver Leiter, er trifft seinerseits eine Vorselektion der ankommenden Reize.» Das hat den Physiologen überrascht. Bei länger anhaltenden Reizen finde eine Übertragung bis zum Soma statt, bei schnellen, kurzen oft nicht. Was genau dies bedeutet – das wissen die Forschenden nicht. Aber eines ist dennoch klar: «Die Erkenntnisse zeigen, dass die ganze Struktur der Grosshirnrinde viel komplexer und offenbar noch reaktionsfähiger ist als vermutet», fasst Matthew Larkum zusammen.

Bewiesen haben die Berner Physiologen dies durch eine selbst entwickelte Technik, die es neuerdings erlaubt, selbst bei den feinsten Dendriten die elektrischen Werte eines Signals abzuleiten und zu messen; bisher gelang dies nur an dickeren Dendriten und am Soma. Durch filigranste Schnitte durch Hirnzellen von Ratten und mittels neuartiger 2-Photonenmikroskope können Larkums Forscherinnen und Forscher an kleinste Strukturen der Nervenzellen Elektroden ansetzen. Publiziert sind Methoden und Resultate im aktuellen «Nature Neuroscience».


Das hochentwickelte Mikroskop der Neurophysiologen zeigt einmalige Bilder.

Physiologie und Philosophie

Die Grosshirnrinde erlaubt dem Menschen – und einigen Tierspezies – die Intelligenz. «Ohne Grosshirnrinde kein Bewusstsein», sagt Physiologe Larkum kurz. Allerdings bestehe das Bewusstsein wohl aus mehr als ein paar Millionen Nervenzellen… «Wie sollte man ein solches Phänomen in eine physiologische Sprache fassen?», fragt Larkum. Eher ein philosophisches Thema, meint er und kehrt zurück ans 2-Photonen-Mikroskop.

So funktioniert eine Nervenzelle

Eine Nervenzelle (=Neuron) ist eine spezialisierte Zelle des Nervensystems höherer Tiere. Ein Neuron besteht aus Dendriten, dem Soma und einem Axon, dem Hauptleiter, und ist über Synapsen mit anderen Nervenzellen verbunden. Die Zellen kommunizieren über elektrische Signale: Durch Neurotransmitter, chemische Botenstoffe, die in die Zelle strömen, wird ein Neuron in Erregung versetzt. Beim Ansatz des Axons (Axonhügel) fällt die Alles-oder-Nichts-Entscheidung: Wenn der Reiz einen bestimmten Schwellenwert erreicht, wird ein sogenanntes Aktionspotenzial ausgelöst und weitergeleitet: Entlang des Axons gelangen durch sogenannte Kalium- und Natrium-Pumpen Ionen ins Innere. Dadurch entsteht ein Gefälle zwischen positiv und negativ geladenen Teilchen und damit ein elektrisches Potenzial, welches die Erregung zur nächsten Zelle trägt.

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