Wenn Intimes niedergeschrieben wird

«Familiengeschichten». Eine internationale Tagung an der Uni Bern beschäftigt sich mit Biografien – und Thanatografien, Sterbensberichte, die Hinterbliebene verfassen.

Von Bettina Jakob 04. Oktober 2006

Seine Schwingen sind schwarz, finster ist sein Blick: Thanatos, Sohn der Nacht, griechischer Gott des Todes. In den Darstellungen kommt er leise und schneidet dem Sterbenden mit dem Messer eine Locke ab. Thanatografien sind Geschichten vom Tod. «Sie stellen im Gegensatz zu den Biografien nicht das Leben, sondern das Sterben einer Person in den Vordergrund», sagt Christian von Zimmermann, Professor am Institut für Germanistik der Uni Bern. Er hat zusammen mit Nina von Zimmermann von den Erziehungswissenschaften eine Tagung organisiert, die sich mit «Familiengeschichten» in Biografien, Autobiografien, Zeitzeugeninterviews, Romanen und Dramen auseinandersetzt.

Schwarz-Weiss-Foto einer Familie bestehend aus Frau, Mann und zwei Kindern
Familie um 1901: Der Rigenser Architekt Wilhelm Bockslaff mit Frau und Töchtern. Bild: Zvg

Von Glaubensbekenntnissen bis zur Kritik

Auch Sterbensberichte sind Familiengeschichten: «Schon seit jeher versuchen Angehörige den Verlust einer Person durch Schreiben zu bewältigen und bringen ihre Gefühle zu Papier», sagt von Zimmermann. Je nach Zeitalter sind Inhalte und Schreibstil natürlich anders: Während im 18. Jahrhundert die Gedenkberichte vor allem die Gottesfürchtigkeit rühmten, spätere die Qualitäten als Ehefrau, oder die Fürsorglichkeit des verstorbenen Vaters lobten, sind in der heutigen Literatur die Texte kritischer geworden. Von Zimmermann nennt Peter Handke als Beispiel, der den Selbstmord seiner Mutter in einem Buch verarbeitet hat. «Handke beleuchtet das Leben seiner Mutter kritisch und kommt zum Schluss, dass es unausweichlich war, dass seine Mutter auf diese Art sterben musste», so der Germanist. Er beschreibt nämlich auch das nichtgelebte Leben der Frau. «Handke macht seine Mutter so zu einer exemplarischen Person, deren Leben man an die Öffentlichkeit ziehen kann», so von Zimmermann.

Schreibende verpacken eigene Ideen

Wer eine Thanatografie – oder auch eine Biografie – schreibt, der bezweckt immer etwas. Dies kann die persönliche Trauerverarbeitung sein, eine exemplarische Darstellung einer Lebensart. Unter den Texten findet man aber gemäss von Zimmermann auch ethische Belehrungen und manch ein Schreibender verpackt seine eigenen wissenschaftlichen oder ideologischen Vorstellungen in die Lebensgeschichte anderer, er stellt sich selbst dar. «Wie es zum Beispiel die Grossnichte von Johanna Spyri tat», erklärt Nina von Zimmermann. Marguerite Paur-Ulrich baute 1927 in ihre Biografie über die Schweizer Schriftstellerin eigene Meinungen ein: Spyri war gegen die beginnende Frauenbewegung, was ihre Grossnichte kritisierte und damit ihre persönliche Ansicht äusserte. Die Thanatografie unterscheidet sich von der Biografie durch ihre Erzählform: Die Texte über den Tod eines Menschen können auch lyrische Gedichte sein.

Prominenz ganz persönlich

Ein breites Publikum findet intime Geschichten über berühmte Persönlichkeiten spannend. «Biografien über Royals finden reissenden Absatz», sagt Christian von Zimmermann. «Alle wollen wissen, wie sich eine grosse Persönlichkeit privat verhält.» Von Interesse seien auch Geschichten über problematische Verhältnisse: «Wenn zum Beispiel Kinder über die nationalsozialistischen Eltern schreiben, wie dies in jüngsten Büchern der Fall ist», so der Germanist. Welche Hintergründe auch immer: «Familiengeschichten sind immer spannend – und ein populäres Thema.»

Weiterführende Links

An der Tagung spricht u.a. Veronika Beci, die als Verfasserin zahlreicher Biografien (»Verdi«, »Schubert« und »Die Familie Mozart«) bekannt ist. Beci ist Schriftstellerin, Kulturhistorikerin und promovierte Musikologin.

Oben