«Helfen will gelernt sein»

Vor etwa sechs Wochen ist Wolfgang Marschall von seinem Einsatz in der Provinz Aceh in Indonesien zurückgekehrt. Der ehemalige Berner Ethnologie-Professor hat geholfen, ein vom Tsunami verwüstetes Fischerdorf wieder aufzubauen. Kürzlich hat er an der Uni von den Hilfsarbeiten und der Situation im Land erzählt.

Von Sabine Olff 06. Juni 2005

Bis vor zwei Jahren arbeitete Wolfgang Marschall am Institut für Ethnologie. Er ist Experte für das Land Indonesien und hat in seinen Berner Jahren einen entsprechenden Forschungsschwerpunkt aufgebaut. Kurz nach der Flutkatastrophe in Asien wurde der emeritierte Professor von der Hilfsorganisation Caritas angefragt, ob er für etwa zehn Tage in die Provinz Aceh reisen könne. Ein ehemaliger Studierender, der bei Caritas arbeitet, hatte sich an den Experten Marschall erinnert.

Foto vom überfluteten Dorf aus der Vogelperspektive
Das Dorf Calang in der Provinz Aceh wurde bis auf die Moschee vollkommen zerstört. Bilder: Wolfgang Marschall

Orte, an denen nichts mehr ist

Er solle vor Ort schauen, was es zu tun gibt, hiess der Auftrag. Aus zehn Tagen wurden dreissig. Vor etwa sechs Wochen ist er von seinem zweiten einmonatigen Einsatz zurückgekehrt. Am letzten Donnerstag berichtete er an der Uni Bern von den schwierigen Hilfsarbeiten in einem von Korruption und Bürokratie bestimmten Land. 

Die Provinz Aceh in Nordsumatra wurde vom Tsunami besonders stark getroffen. In Aceh herrscht seit Jahren Krieg. Die Provinz kämpft um ihre Unabhängigkeit. Als Marschall wenige Tage nach der Katastrophe in Meulaboh an der Westküste ankam, sah er Trümmer und Leichen. Mehr nicht. Die eigentliche Aufgabe von Caritas konnte er nicht erfüllen. «Wie soll man an einem Ort an dem nichts mehr ist, abschätzen können, was es zu tun gibt», fragt er. Ihm wurde klar: «Helfen will gelernt sein.» Er suchte deshalb nach konkreten «Kleinigkeiten» und nach Arbeitsgebieten, von denen er etwas versteht.

Miniaturklinik und Nassreisfelder

Als erstes baute er zusammen mit einer US-amerikanischen Krankenschwester und mehreren Indonesiern eine Miniaturklinik in einer baufälligen Schule auf. Medikamente konnte die Pflegerin besorgen. Eine Woche lang versorgte Marschall Kranke und Verletzte mit dem Nötigsten. «Das war eine der intensivsten Wochen meines Lebens», sagt er. Das war Soforthilfe, die Ethnologie habe er dafür nicht gebraucht.

Danach kümmerte er sich drei Wochen lang um die Instandsetzung von Nassreisfeldern – sofern das noch möglich war. Die Erde an der Westküste Sumatras ist derart abgesackt, dass viele Reisfelder verschwunden sind. Sie sind gefüllt mit Wasser, Toten, Erdöl und Trümmerteilen. Zusammen mit den Bauern besprach er, was es für die anstehenden Arbeiten braucht. Es fehlten Menschen, Saatgut und Arbeitsinstrumente. «Es gab keine Hacke und keinen Spaten mehr.» Er organisierte Konvois, von denen aus die Materialien direkt an die Bauern verteilt wurden. «Etwas zu lagern ist gefährlich», sagt er. «Es gelangt unglaublich schnell in die Hände des Militärs.»

Wolfgang Marschall vor einem überfluteten Nassreisfeld.
Wolfgang Marschall vor einem überfluteten Nassreisfeld.

Neues Fischerdorf für 20'000 Euro

Generell ist Korruption in Aceh weit verbreitet. Die Provinz ist fruchtbar und potentiell reich: So steht in Aceh eine der weltweit grössten Erdgasverflüssigungsanlagen. Bei der Erdgasförderung verdienten der indonesische Staat und das Militär ordentlich mit, sagt Marschall. Die Acehnesen haben dagegen nichts davon. Gelder zweigen Regierung und Militär beispielsweise auch beim Handel mit Crevetten ab.

Sein zweiter Einsatz führte Marschall Mitte März in ein Fischerdorf an der Ostküste. Dort gab es eine Moschee und ein Haus, mehr nicht. Die Bewohner überlegten sich zusammen mit dem Ethnologen ein Projekt, wie sie ihr Dorf wieder aufbauen können. Das Geld dafür kam von Caritas. In einem vierteiligen Projekt begannen sie Boote zu bauen, die Fischteiche zu säubern, Modellhäuser zu entwerfen und eine Volksküche einzurichten. Marschall war erstaunt wie schnell sich funktionierende Arbeitsgruppen formierten. Mit einer «Miniatursumme» von 20'000 Euro hat er ein Projekt angestossen, das ein ganzes Dorf wieder zum Leben erweckt.

Boot, das von der Flutwelle ins Landesinnere transportiert wurde.
Der Tsunami hat das Boot drei Kilometer ins Landesinnere transportiert.

Von der Arbeit der Organisationen enttäuscht

Bei den Projekten hätte er sich – ganz im Sinne eines Ethnologen – stets darum bemüht, mit Geduld an die Sache heranzugehen. Bevor er zu handeln begann, versuchte er die Zusammenhänge und die Strukturen in den jeweiligen Gemeinschaften zu verstehen. Die Hilfsorganisationen vor Ort taten das zu Marschalls grosser Enttäuschung nicht. «Sie sehen gar nicht richtig hin», sagt er. Marschall findet es «beschämend, dass bei so vielen Leuten vor Ort so wenig gemacht worden ist.» Auch von den Staatsgeldern, die der indonesischen Regierung zuflossen, sei bislang nichts an die Hilfsbedürftigen weitergegeben worden. «Das ist eine ganz üble Seitenerscheinung der Korruption.»

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