«Voller Bildschirm, voller Hörsaal»: Wie Digitalisierung die Präsenzlehre beflügelt

Wie sieht Präsenzunterricht im Zeitalter von E-Learning, Fernuniversitäten und Webinaren aus? Am sechsten «Tag der Lehre» des Vizerektorats Lehre und des Bereichs Hochschuldidaktik & Lehrentwicklung zeigte sich, dass Digitalisierung die gute Lehre unterstützen kann und dass technische Anwendungen die pädagogische Expertise keineswegs ersetzen, sondern die Anforderungen an sie erhöhen.

Von Claudia Kaufmann 22. Februar 2018

Dass sich Digitalisierung und Präsenzveranstaltungen nicht ausschliessen, sondern gegenseitig befeuern können, bewies der «Tag der Lehre» noch bevor der erste Referent das Wort ergriff: Der grosse Hörsaal im vonRoll-Hochschulzentrum war bis auf den letzten Platz besetzt, obwohl alle Tagungsunterlagen vorgängig online zur Verfügung standen. Die grosse Resonanz und die angeregten Diskussionen der Teilnehmenden zeigten nicht nur, wie sehr das Thema interessiert, sondern auch, wie gross das Bedürfnis ist, sich mit anderen vor Ort darüber auszutauschen.

Voller Hörsaal und angeregte Diskussionen am sechsten «Tag der Lehre» der Universität Bern. Alle Bilder: Roman Suter, Universität Bern
Voller Hörsaal und angeregte Diskussionen am sechsten «Tag der Lehre» der Universität Bern. Alle Bilder: Roman Suter, Universität Bern

Digitalisierung als Partnerin der Präsenzlehre

Im Fokus der Tagung stand nicht ein plakatives Entweder-Oder, sondern ein differenziertes Sowohl-als-Auch: Wie lassen sich digitale Medien sinnvoll mit Präsenzunterricht kombinieren, welche Herausforderungen stellen sich und welche Vorteile ergeben sich? Neben dem einleitenden Redner Prof. Dr. Jörn Loviscach (Fachhochschule Bielefeld) berichteten sieben Dozierende der Universität Bern und anderer Hochschulen von ihren Erfahrungen mit «Flipped Classrooms» und «Blended Learning»: Sie haben alle das klassische Muster von (frontaler) Stoffvermittlung im Hörsaal und individueller Nachbereitung durch die Studierenden auf den Kopf gestellt. Dabei haben die Dozentinnen und Dozenten auf unterschiedliche Weise Videos, Quiz, E-Votings oder gar ganze MOOCs (Massive Open Online Courses) aber auch Gruppenarbeiten oder «Peer Instruction» mit ihren Präsenzveranstaltungen verknüpft.

«Was wäre, wenn...

... die Studierenden den Unterrichtsstoff bereits kennen würden, die Lehrperson keine Vorlesung halten müsste und stattdessen die Zeit im wechselseitigen Austausch mit den Studierenden verbringen könnte?» Mit dieser Leitfrage umriss Lovisach den substanziellen Gewinn, den alle Referierenden in ihren Flipped Classroom-Umsetzungen erfahren haben: Das vorgängige Selbststudium zu Hause eröffnet ganz neue Möglichkeiten für Dozierende und Studierende in der Präsenzzeit. Es schafft mehr Platz für Diskussion und Interaktion in der Vorlesung und ermöglicht dadurch das gemeinsame Vertiefen in den Stoff sowie das aktive Überprüfen und Anwenden des Wissens. 

PD Dr. Andreas Verdun vom Astronomischen Institut der Universität Bern und Dr. Kathrin Jost von der Pädagogischen Hochschule PHBern zeigten auf, wie der Flipped Classroom die Verschiebung von der Zahlen- und Faktenvermittlung zum reflektierten Umgang mit denselben beflügeln kann. Prof. Dr. Christa Tobler vom Europainstitut der Universität Basel legte dar, wie das vorgängige E-Learning überraschende Impulse für die Präsenz-Diskussion generieren kann. Der ETH-Geologe Dr. Marcel Frehner wiederum zeigte sich überzeugt, dass Dozierende auf diese Weise viel effektiver eingesetzt sind und dass die Studierenden nachhaltiger lernen. Und Dr. Jürg Schmid vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern zeigt in seinem Referat auf, dass dank dem Flipped Classroom-Modell selbst bei dem nüchternen Fach Statistik die Präsenzzeit nicht nur für die Studierenden, sondern auch für die Dozentin oder den Dozenten bedeutend an Attraktivität gewinnen kann.

«Kreatives Jonglieren mit der Präsenzzeit»: Prof. Dr. Jörn Loviscach (Fachhochschule Bielefeld).
«Kreatives Jonglieren mit der Präsenzzeit»: Prof. Dr. Jörn Loviscach (Fachhochschule Bielefeld).

Kunstvolle Verzahnung der Elemente

Doch was ist nötig, damit der Flipped Classroom nicht floppt und dass Blended Learning nicht zur Verblendung, zur «Verstehensillusion» (Loviscach) führt? Wie motiviert man die Studierenden zum Selbststudium und wie lockt man sie anschliessend auch noch in die Präsenzveranstaltung? Die Erfahrungen von PD Dr. Michael Schulte-Mecklenbeck vom Institut für Marketing und Unternehmensführung der Universität Bern und Andrea Gerber, Dozentin an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), zeigen, dass ein Vorbereitungstext allein selten als Anreiz genügt: multimediale und interaktive Elemente wie Podcasts, Videos, Quiz oder Lernspiele können eine motivierende Bereicherung sein und das Textverständnis erleichtern. Und damit umgekehrt das Selbststudium den Unterricht vor Ort nicht ersetzt, muss dieser einen Mehrwert in Form von gegenseitigem Austausch, zusätzlicher Erkenntnis und individueller Betreuung bieten. Im Idealfall sind Selbst- und Kontaktstudium inhaltlich und formal geschickt verschränkt. Wie Andrea Graber ausführte, schafft eine «kunstvolle Verzahnung» eine Verbindung zwischen beiden Komponenten und gewährleistet dabei gleichzeitig, dass man nur dann von beiden optimal profitiert, wenn man auch beide nutzt.

Gute Lehre gibt's nicht zum Nulltarif

Dass digitale Komponenten und interaktive Präsenzveranstaltungen Dozierende vor Herausforderungen stellen, ist klar. «Flipped Classrooms sind nicht ressourcenschonend», meinte Jürg Schmid dazu pointiert. Der Initialaufwand für die Aufbereitung der digitalen Hilfsmittel ist beträchtlich, zudem müssen diese immer wieder aktualisiert werden. Dazu braucht es die richtigen Tools und entsprechendes Knowhow. Von Marcel Frehner erfuhr das Publikum, dass der individuellere Präsenzunterricht auch mehr Betreuungspersonen erfordert. Zudem müssten die Zielsetzungen und Leistungsnachweise auf die neuen Formate abgestimmt werden. Die an der Tagung präsentierten Praxisbeispiele zeigten eine unbürokratische Möglichkeit, um diesen Herausforderungen zu begegnen: Sie begannen als einzelne Pilotprojekte und werden schrittweise ausgebaut und optimiert. An der Universität Bern profitierten Dozierende bei der Realisation ihrer Projekte zudem von der internen Fördermassnahme FIL (Förderung Innovativer Lehre).

Das Beste aus zwei Welten

«Digitalisierung ist nicht das Patentrezept, sondern eine wertvolle Beilage für gute Lehre», fasste Prof. Dr. Bruno Moretti, Vizerektor Lehre der Universität Bern, die Erkenntnisse der Tagung in der Schlussdiskussion zusammen. Digitalisierung kann die eigenständige Erarbeitung von Lerninhalten fördern und sie ermöglicht aktivierende Formate im Unterricht vor Ort sowie die lernwirksame Verknüpfung beider Ansätze. Dabei vermögen technische Anwendungen weder die Dozierenden noch deren pädagogische Expertise zu ersetzen. Im Gegenteil: Die Technik muss im Dienste guter Didaktik stehen. Die verschiedenen Praxisbeispiele zeigten letztlich auch, dass es nicht die eine Musterlösung zur Einbindung digitaler Instrumente in die Lehre gibt. Unterschiedliche Inhalte und Rahmenbedingungen erfordern immer auch unterschiedliche Methoden und Ansätze.

Die Schlussvoten der Tagung: Ein Plädoyer für gute Präsenzlehre.
Die Schlussvoten der Tagung: Ein Plädoyer für gute Präsenzlehre.

Dass sich der Aufwand lohnt, darin waren sich alle Referierenden einig: Blended Learning und Flipped Classrooms verbinden die Vorteile von E-Learning und Präsenzveranstaltung und wandeln die klassische Vorlesung in eine dynamische Plattform für die gemeinsame, interaktive Arbeit mit dem Gelernten um. Das schafft Mehrwert für alle Beteiligten: eine spannende, herausfordernde Lehrsituation für die Dozierenden und ein abwechslungsreiches und effektives Lernerlebnis für die Studierenden. 

«Man hat etwas verpasst, wenn man nicht kam», zitierte Andrea Gerber das Feedback einer Studentin zum Flipped Classroom. Der sechste «Tag der Lehre» hat vor Augen geführt, wie gute Präsenzveranstaltungen in Zeiten der Digitalisierung aussehen können.

Der «Tag der Lehre»

In der Strategie 2021 der Universität Bern bilden die hohe Qualität der Lehre sowie die Weiterentwicklung von Lehrmethoden eine von insgesamt vier universitären Teilstrategien. In diesem Rahmen diskutieren am jährlich stattfindenden «Tag der Lehre» Dozierende der Universität Bern und anderer Hochschulen über exzellente und innovative Lehre. Die Tagung wird vom Vizerektorat Lehre in Zusammenarbeit mit der Hochschuldidaktik des Zentrums für universitäre Weiterbildung ZUW der Universität Bern organisiert.

Zur Autorin

Claudia Kaufmann ist Kommunikationsbeauftragte des Zentrums für universitäre Weiterbildung ZUW der Universität Bern

Oben