«Ich hielt die Benachrichtigung zunächst für Fake News»

Ausgezeichnet wurde sie für höchst innovative Forschung zum orientalischen Christentum: Heleen Murre-van den Berg nahm anlässlich des Dies academicus den mit 100'000 Franken dotierten Hans-Sigrist-Preis der Universität Bern in Empfang. Das Onlinemagazin «uniaktuell» war beim traditionellen Interview der Hans-Sigrist-Stiftung mit der Preisträgerin dabei.

Von Brigit Bucher 21. Dezember 2017

Der Hans-Sigrist-Preis war Heleen Murre-van den Berg vor ihrer Auszeichnung kein Begriff. Lachend erzählt die sympathische Niederländerin: «Ich hätte das Mail beinahe gelöscht. Im Betreff stand etwas davon, dass ich einen Preis gewonnen hätte. Normalerweise lösche ich ja solche Gewinnbenachrichtigungen einfach. Ich musste die Nachricht drei Mal lesen, um zu begreifen, dass es wahr ist, dass es keine Fake News sind.» 

Eine neugierige Person, die sich nicht scheut, Fragen zu stellen, sitzt uns gegenüber: Heleen Murre-van den Berg will als erstes wissen, ob der Raum, wo das Interview stattfindet, zur Hans-Sigrist-Stiftung gehört. Sie scheint verstehen zu wollen, wo sie ist – man spürt die passionierte Kulturwissenschaftlerin in ihr. Gefragt, als was sie sich bezeichnen würde, sagt sie aber ohne lange nachzudenken: «Ich bin Historikerin.»

Weltweit anerkannte Spezialistin 

Heleen Murre-van den Berg widmet sich in ihrer Forschung schwerpunktmässig dem syrischen Christentum im Nahen Osten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ihr Weg an der Uni begann mit dem Studium des Hebräischen. Sie erzählt von ihrem protestantischen Hintergrund und ihrem Interesse an der Bibel. Das Studium verlangte, dass sie sich mit einer zweiten semitischen Sprache auseinandersetzte. Das war dann zufälligerweise das Aramäische, «die Sprache einer Gruppe von Christen, von denen ich nie zuvor gehört hatte – den syrischen Christen». Gereizt am Forschungsgebiet hat sie schliesslich auch, dass sich nicht viele Forschende vor ihr mit dem syrischen Christentum auseinandergesetzt haben.

Heleen Murre-van den Berg wurde am Dies academcius am Samstag, 2. Dezember mit dem Hans-Sigrist-Preis ausgezeichnet. © Universität Bern, Bild: Manu Friederich
Heleen Murre-van den Berg wurde am Dies academcius am Samstag, 2. Dezember mit dem Hans-Sigrist-Preis ausgezeichnet. © Universität Bern, Bild: Manu Friederich

Inzwischen ist Heleen Murre-van den Berg eine weltweit anerkannte Spezialistin auf dem Gebiet des Christentums im Nahen Osten. In der Laudatio bei der Preisübergabe am Dies academicus hiess es:  «Sie benutzt und kombiniert in ausgezeichneter Weise philologische, literarische, historische, theologische und kulturwissenschaftliche Methoden.» So vielseitig ihre Herangehensweise, so auch die Themen, zu denen Murre-van den Berg im Zusammenhang mit Christen im Nahen Osten publiziert. So befasst sie sich beispielsweise mit dem syrischen Christentum, das seine Wurzeln in Syrien und Mesopotamien des 2. und 3. Jahrhunderts hat, speziell in Gegenden, wo anstelle von Griechisch Aramäisch gesprochen wurde. Heute leben syrische Christen im Irak, im Iran, in Syrien, in Ägypten, der Türkei, im Libanon und in der Diaspora in Europa und den USA. Murre-van den Berg beschäftigt sich in ihrer Forschung speziell mit der Sprache, Schreibpraktiken, Literatur, Identität und Nationalismus sowie rituellen und religiöse Praktiken. Auch der Austausch zwischen Christen im Westen und im Nahen Osten interessiert sie, ebenso wie die Diaspora von syrischen Christen. 

«Fakten sind immer nur die eine Hälfte»

Murre-van den Berg unternimmt viele Reisen in die Region. Sie sagt: «Mich interessiert der Zusammenhang zwischen der historischen Forschung und der aktuellen Situation. In meiner Forschung findet immer auch eine Reflexion darüber statt, was jetzt gerade passiert.» Sie findet, dass der Kontakt zu den Menschen vor Ort unabdingbar ist, dass eine rein akademische Perspektive nicht genügt. «Schon als Studentin hatte ich die Gelegenheit mit meinem Doktorvater, der enge Kontakte pflegte, in die Communities zu gehen», fährt sie fort und sagt: «Man muss die Orte sehen und zuhören, wie die Menschen über ihre Geschichte sprechen. Man muss verstehen, wie die Menschen sich selber innerhalb ihrer eigenen Geschichte positionieren.» Und man müsse sich auch immer bewusst sein, was man selbst mitbringe und dass es immer verschiedene Arten gäbe, die Welt zu betrachten und zu interpretieren: «Fakten sind immer nur die Hälfte einer Geschichte, die man erzählt. Wichtig ist doch, dass man aufzeigt, woher die Quellen stammen und wie man zu seinen Schlüssen gelangt.» 

Die aktuelle Situation in Syrien bereitet ihr Sorgen. Natürlich habe die Religion eine grosse Auswirkung darauf, entlang welchen Grenzen die Gesellschaft organisiert sei. Sie ist aber auch überzeugt, dass oftmals erst der Krieg diese Gliederung kreiere und verhärte. Sie beschreibt, dass in vielen Gebieten vor dem Krieg die Gemeinschaften sehr durchmischt waren. «Besonders tragisch finde ich, dass rund 100 Jahre nach dem Genozid an den syrischen Christen diese Menschen bereits wieder vertrieben werden.» Sie erzählt, dass es den Christen im Nahen Osten ab den 1950er Jahren recht gut ging, sie ein geschätzter Teil vieler Gemeinschaften waren, sie aber gleichzeitig dennoch immer mehr marginalisiert und an den Rand gedrängt wurden bis zur Kulmination mit den Zerstörungen und Gräueltaten des IS. Und sie ist froh, mit ihrer Forschung etwas beitragen zu können zur Bewahrung des kulturellen Erbes.

Auszeichnung zum genau richtigen Zeitpunkt

Elf Forschende erhielten einen akademischen Preis. Hinten v.l.n.r.: Dr. Hüseyin Ilgü, Prof. Dr. Christoph Schlapbach, Dr. Christoph Bieri, Rektor Prof. Dr. Christian Leumann, Dr. Christian Moesch, PD Dr. Carsten Riether. Vorne v.l.n.r.: Dr. Daniel Zysset, Dr. Miriam Zemanova, Dr. Corinne Ruppen, Prof. Dr. Heleen Murre-van den Berg, Mirijam Ineichen, Dr. Anke Harsman. © Universität Bern, Bild: Manu Friederich
Elf Forschende erhielten einen akademischen Preis. Hinten v.l.n.r.: Dr. Hüseyin Ilgü, Prof. Dr. Christoph Schlapbach, Dr. Christoph Bieri, Rektor Prof. Dr. Christian Leumann, Dr. Christian Moesch, PD Dr. Carsten Riether. Vorne v.l.n.r.: Dr. Daniel Zysset, Dr. Miriam Zemanova, Dr. Corinne Ruppen, Prof. Dr. Heleen Murre-van den Berg, Mirijam Ineichen, Dr. Anke Harsman. © Universität Bern, Bild: Manu Friederich

Der Hans-Sigrist-Preis komme zum richtigen Zeitpunkt für sie: Vor zwei Jahren verliess Heleen Murre-van den Berg ihren Posten als Vizedekanin in der Administration der Universität Leiden und wurde Direktorin und ausserordentliche Professorin am Institute of Eastern Christian Studies der Universität Radboud in Nijmegen. Sie erzählt, dass sie sich darauf freut, ein grosses neues Forschungsprojekt in Angriff zu nehmen. Das Preisgeld wird ihr ermöglichen, wichtige Vorarbeiten zu leisten, bevor sie dann zu den Geldgebern wie dem ERC gehen kann.

ZUR PERSON

Geboren 1964
1995 PhD an der Universität Leiden, NL
1996 Post-Doc an der Harvard Universität, USA
2008 Professorin für History of World Christianity an der Universität Leiden, NL
2012–2015 Vizedekanin der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Leiden, NL
Seit 2015 Direktorin und ausserordentliche Professorin am Institute of Eastern Christian Studies der Universität Radboud, Nijmegen, NL
Seit 2017 Direktorin der Netherlands School for Advanced Studies in Theology and Religion (NOSTER), Nijmegen, NL
Seit 2017 Mitglied der Koninklijke Nederlandse Akademie der Wetenschappen (KNAW)

DER HANS-SIGRIST-PREIS

Den Hans-Sigrist-Preis erhielt Prof. Dr. Heleen Murre-van den Berg auf Initiative der Philosophisch-theologischen Fakultät. Der Hans-Sigrist-Stiftungsrat legt jeweils aus verschiedenen Vorschlägen das Wissenschaftsgebiet fest, aus welchem eine international zusammengesetzte Expertenkommission Forschende aus dem In- und Ausland nominiert. Der Stiftungsrat entscheidet schliesslich über die Vergabe. Das Preisgeld kann die Gewinnerin oder der Gewinner im Rahmen des Forschungszieles nach freiem Ermessen verwenden.

Zur Autorin

Brigit Bucher arbeitet als Stv. Leiterin Corporate Communication an der Universität Bern und ist Redaktorin bei «uniaktuell».

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