SNSF Starting Grant: Arbeit in islamischen Rechtstraditionen

Gleich acht Forschende der Universität Bern erhielten begehrte Starting Grants des Schweizerischen Nationalfonds, die die Leitung eines eigenen Forschungsprojekts und -teams ermöglichen. Zu ihnen zählt Islamwissenschaftlerin Serena Tolino.

Interview: Arian Bastani 19. April 2023

Prof. Dr. Serena Tolino hat für ihre Forschung zu islamischen Rechtstraditionen einen SNSF Starting Grant ehalten. Tolino ist Co-Direktorin des Instituts für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften ISNO an der Universität Bern. © zvg
Worum geht es in Ihrem Projekt?

Wir sind oft voller falscher Vorstellungen über den Islam. Wir neigen beispielsweise dazu, davon auszugehen, dass muslimische Frauen durch die Scharia unterdrückt werden – doch die Realität ist viel komplexer.

Ziel meines Projektes ist es, ein besseres Verständnis dafür zu schaffen, was islamisches Recht ist, wie es mit Gender, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und sozialer Schicht zusammenhängt und wie es das Leben der Menschen beeinflusst hat. Auf diese Weise hoffen wir, zum Abbau falscher Vorstellungen beitragen zu können.

Das Projekt ist der erste Versuch, die Geschichte des Verständnisses von Arbeit in islamischen Kontexten zwischen dem zehnten und zwanzigsten Jahrhundert zu schreiben. Das Projekt soll so auch zu einem weniger eurozentrischen Verständnis von Arbeit beitragen, und was Arbeit in verschiedenen Kontexten bedeutet hat. Dazu werden mein Team und ich drei Forschungsbereiche zusammenbringen, die bislang wenig im Austausch standen: die Arbeitsforschung, die Genderforschung und das Rechtsstudium in islamischen Gesellschaften.

Was motiviert Sie zu dieser Forschung?

Ich war in meiner Familie die erste mit einem Universitätsabschluss. Viele meiner Angehörigen balancierten zwischen mehreren Jobs, um über die Runden zu kommen. Gleichzeitig entwickelte ich schon früh ein starkes Interesse an geschlechterspezifischen Ungleichheiten. Beide Aspekte begleiteten mich während meines Studiums und meiner beruflichen Laufbahn im Bereich der Islam- und Nahoststudien. Je mehr ich las, desto frustrierter war ich darüber, wie wenig wir über berufstätige Frauen im Nahen Osten wissen – ich hatte das Gefühl, aktiv etwas tun zu müssen, um diese immense Forschungslücke zu schliessen.

Von einem Starting-Grant träumen viele junge Forschende, oder jene, die es werden wollen. Was raten Sie ihnen?

Ich würde ihnen empfehlen, für den Aufbau vertrauensvoller und solidarischer Beziehungen genauso viel Zeit und Kraft zu verwenden wie für die Forschung. Ich hatte das unglaubliche Glück, Mentorinnen, Kollegen und Freundinnen um mich zu haben, die mich während meines gesamten Studiums und meiner Karriere beraten und unterstützt haben. Ohne ihre Unterstützung hätte ich nie an eine wissenschaftliche Laufbahn gedacht.

Entscheidend ist in meinen Augen auch, der eigenen Leidenschaft zu folgen, auch wenn es nicht die strategisch beste Wahl zu sein scheint. Denn man weiss nie, was die Zukunft bringt. Also mach, was dich begeistert, so lang, wie du kannst, und hab Freude dabei.

Weshalb haben Sie sich dazu entschieden, Ihr Projekt an der Universität Bern durchzuführen?

Ich arbeite seit 2020 an der Universität Bern und bin Co-Direktorin des Instituts für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften ISNO. Wir sind ein engagiertes, internationales, leidenschaftliches und diverses Team, in dem ich mich wie zu Hause fühle und das mir jeden Tag ein Lächeln ins Gesicht zaubert, wenn ich das Institut betrete. Wir hatten bereits einen Schwerpunkt zu Gender und Recht in muslimischen Gesellschaften. Als der SNF dann noch ein anderes Projekt über Sklaverei finanzierte, rückte auch die Zwangsarbeit in den Mittelpunkt unserer Forschungsinteressen: Es war einfach der perfekte Ort für dieses Projekt!

Über die SNSF Starting Grants

Da die Schweiz beim europäischen Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe aktuell ein nicht-assoziierter Drittstaat ist, hat der Bund den SNF beauftragt, als Übergangsmassnahme eine Ausschreibung für SNSF Starting Grants 2023 zu lancieren, die die ERC Starting Grants ersetzt. Das Förderinstrument steht allen Disziplinen und Themen offen. Forschende aus allen Ländern können daran teilnehmen. Gesuchstellende können ein Budget von maximal CHF 1,8 Millionen Franken für eine Laufzeit von fünf Jahren beantragen.

Über das Institut für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften ISNO

Das ISNO in Bern verbindet die fachliche Stringenz der textorientierten Islamwissenschaft mit der Expertise der Regionalstudien und postkolonialer Ansätze. Das Institut ist auf historische, sozial- und politikwissenschaftliche Methoden spezialisiert und befasst sich insbesondere mit Gender- und Sexualitätsforschung, Rechtsgeschichte, Arbeitsgeschichte, Forschung zu Medien und politischen Bewegungen, Transnationalismus und Migrationsstudien. Es konzentriert sich nicht nur auf die «normativen» Aspekte des Islams, sondern auch auf die Geschichte, die Kultur und das Alltagsleben in islamisch geprägten Gesellschaften. Geographisch liegt der Schwerpunkt auf dem Nahen Osten, chronologisch auf der Moderne und der Gegenwart. Der neue Name des Instituts (bis Ende 2021 hiess es Institut für Islamwissenschaft) unterstreicht zum einen den geografischen Fokus, zum anderen die zentrale Rolle, die Menschen und Gesellschaften in den Regionalstudien spielen sollten. Am Institut werden verschiedene Studiengänge auf Stufe Bachelor und Master angeboten.

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