See-Tsunamis: eine unterschätzte Naturgefahr

Tsunamis entstehen nicht nur im Meer, sie kommen auch in Schweizer Seen vor. Flavio Anselmetti vom Institut für Geologie der Universität Bern gehört zu einem Team, das momentan die Tsunamigefahr in der Schweiz erforscht. Er erklärt, wie im See solche Flutwellen entstehen und warum es wichtig ist, dieses seltene Phänomen besser zu verstehen.

Interview: Ivo Schmucki 11. September 2018

Sie erforschen zusammen mit einem Team bestehend aus Forschenden der Universität Bern, der ETH Zürich und dem Zentrum für Marine Umweltwissenschaften Bremen die Tsunamigefahr in Schweizer Seen. Sollten wir uns Sorgen machen um solche See-Tsunamis? Sind sie eine Gefahr für die Bevölkerung?
Flavio Anselmetti: Die See-Tsunamis sind durchaus eine unterschätzte Naturgefahr. Wir kennen die grossen Tsunamis in den Meeren, aber dass ähnlich hohe Wellen in Seen auftreten können, ist viel weniger bekannt. Es gibt aber zahlreiche historische Beispiele auch in der Schweiz, die sogar Menschenleben gefordert haben, zum Beispiel nach einem Erdbeben im Jahre 1601 in der Zentralschweiz, wo mehrere Menschen durch die Welle starben. Es sind eher seltene Ereignisse, aber diese sind definitiv eine Bedrohung für die Seeufer und deren Bewohner.

Flavio Anselmetti (mit Mütze) bei einem Forschungseinsatz im Rahmen des See-Tsunami-Projekts. © Flavio Anselmetti, Institut für Geologie
Flavio Anselmetti (mit Mütze) bei einem Forschungseinsatz im Rahmen des See-Tsunami-Projekts. © Flavio Anselmetti, Institut für Geologie

Sie sagen, es sind eher seltene Ereignisse. Wie häufig treten See-Tsunamis denn auf? Wann gab es den letzten in der Schweiz?
Kleinere See-Tsunamis treten relativ häufig auf. So gab es zum Beispiel 1996 im Brienzersee einen Tsunami, der aber nur rund 50 Zentimeter hoch war und kaum bemerkt wurde. Die grösseren Ereignisse gibt es zum Beispiel bei Starkbeben, wie erwähnt beim Beben 1601 in der Zentralschweiz. See-Tsunamis können aber auch spontan entstehen, wie 1687 auf dem Vierwaldstättersee. Beide Ereignisse hatten Wellenhöhen von mehr als vier Metern. Auch Bergstürze können grosse Wellen auslösen wie etwa der Bergsturz von Arth Goldau im Jahr 1806, der im Lauerzersee eine verheerende Welle produzierte.

Wie entstehen solche See-Tsunamis?
Wir untersuchen diejenigen Tsunamis, die durch unterseeische Schlammrutschungen ausgelöst werden. Dabei gleiten Millionen von Kubikmeter Seeschlamm an den Unterwasserabhängen lawinenartig in das Seebecken und verdrängen dabei sehr viel Wasser. Diese Verdrängung kann den Seespiegel auftürmen oder auch absenken, wodurch der Tsunami entstehen und sich über den See ausbreiten kann.

Wieso ist es wichtig, mehr über See-Tsunamis zu wissen? Ist zu erwarten, dass sie in Zukunft häufiger auftreten zum Beispiel wegen des Klimawandels?  
Wenn morgen ein Seetsunami ausgelöst wird und Menschen und Infrastruktur schädigt, werden wir Forschenden gefragt werden, warum wir nicht gewarnt und diese Naturgefahr nicht besser untersucht haben. Selbst wenn es ein eher seltenes Phänomen ist, müssen wir diese Naturgefahr besser verstehen. Der Klimawandel hat nicht direkt mit den Tsunamis zu tun, aber wir kennen Unterwasserrutschungen, die durch menschgemachte Uferarbeiten ausgelöst wurden. Viele Tsunamis in den Seen sind durch Erdbeben ausgelöst, wodurch eine Tsunami-Voraussage erschwert wird.

Sie haben zur Untersuchung der See-Tsunamis den Vierwaldstättersee ausgewählt. Warum gerade diesen See?
Wir arbeiten auch auf anderen Seen zum Beispiel im Genfersee, Brienzersee oder im Zürichsee, aber der Vierwaldstättersee hat eine detaillierte Tsunamigeschichte und liegt in einem seismisch sehr aktiven Gebiet. Zudem kennen wir den See aus der bisherigen Forschungsprojekten sehr genau. Auch die vielen sediment-beladenen Unterwasserabhänge machen den See sehr «empfänglich» für Tsunamis, so dass er unser Vorzeige-Untersuchung Objekt wurde.

Einsatzort Vierwaldstättersee. ©Schweizerischer Erdbebendienst an der ETH Zürich 2018
Einsatzort Vierwaldstättersee. ©Schweizerischer Erdbebendienst an der ETH Zürich 2018

Im Forschungsprojekt gibt es verschiedene Teilprojekte. Was wird alles untersucht und an welchen Teilen ist die Universität Bern beteiligt?
Das Projekt ist ein «Sinergia»-Projekt des Schweizerischen Nationalfonds, und besteht deshalb aus verschiedenen Modulen und Disziplinen. Wir sind eigentlich bei den meisten Modulen mit dabei, und leiten selber das Modul, welches die Spuren der prähistorischen und historischen Tsunamis an den Seeufern untersucht. Daneben umfasst das Gesamtprojekt eine technische Charakterisierung des Seebodens, um zu verstehen, wie sich ein Erdbeben auf die Stabilität eines Abhanges auswirkt. Ein weiteres Modul schaut die Stabilitäten der grossen Flussdeltas an, wo auch ohne Erdbeben grosse Unterwasserrutschungen auftreten. Im Weiteren wollen wir die Wasserbewegungen besser verstehen, wozu wir möglichst realistische Wellenausbreitungsmodelle entwickeln. Am Ende wird alles in einer Tsunami-Gefahrenanalyse kombiniert, welche dann in der Zukunft für alle grossen Schweizer Seen angewandt werden könnte.

Mit Seismometern werden Messungen auf dem Seeboden gemacht. ©Schweizerischer Erdbebendienst an der ETH Zürich 2018
Mit Seismometern werden Messungen auf dem Seeboden gemacht. ©Schweizerischer Erdbebendienst an der ETH Zürich 2018

Seit wann läuft das Projekt und wann rechnen Sie mit ersten Ergebnissen?
Wir sind jetzt seit einem guten Jahr am Forschen, das Projekt dauert gesamthaft vier Jahre. Die ersten Ergebnisse sind schon da, aber so ab der Projekthälfte werden wir deutlich mehr wissen, und können dann für die zweite Hälfte richtig Gas geben.

Welcher Aspekt des Forschungsprojekts reizt Sie persönlich am meisten?
Zwei Sachen reizen mich extrem: Einerseits das Rekonstruieren vergangener prähistorischer Ereignisse mittels geologischen Methoden: Wir müssen wie Detektive die Tsunami-Spuren um die Seen finden, lesen und verstehen. Und andererseits reizen mich die Voraussagen: Wir wollen berechnen, wie und wo diese unterseeischen Hänge bei einem Erdbeben von einer gewissen Stärke ausgelöst werden, was für eine Welle entsteht, und wo diese zu Überflutungen führt. Vielleicht können wir ja einmal diese Voraussagen sogar in der Realität testen ... auch wenn ich mir natürlich kein Starkbeben in der Schweiz wünsche.

ZUR PERSON

Flavio Anselmetti ist Professor für Quartärgeologie und Paläoklimatologie und Direktor des Instituts für Geologie an der Universität Bern.

Kontakt:

Prof. Dr. Flavio Anselmetti
Universität Bern, Institut für Geologie
Telefon: +41 31 631 87 06 / flavio.anselmetti@geo.unibe.ch

Forschungsprojekt See-Tsunamis

Ziel dieses Forschungsprojekt ist, die Auslösemechanismen, Voraussetzungen, Prozesse, und Auswirkungen von Seetsunamis in einem interdisziplinären Umfeld (Limnogeologen, Seismologinnen, Geotechniker, Ingenieurinnen und Gefahrenspezialisten) besser zu verstehen. Forschende der ETH Zürich, der Universität Bern und des Zentrums für Marine Umweltwissenschaften Bremen platzieren dazu unter anderem neun Ozeanboden-Seismometer an verschiedenen Orten auf dem Grund des Vierwaldstädtersees. Die Resultate werden zusammengeführt, um unter anderem die Tsunamigefahr für die Schweiz genauer zu beurteilen. Finanziert wird dieses Projekt vom Schweizerischen Nationalfonds, dem Bundesamt für Umwelt sowie der ETH Zürich.

Institut für Geologie

Das Institut für Geologie der Universität Bern betreibt international anerkannte Grundlagenforschung in der Entstehung und Entwicklung der Erde sowie angewandte Forschung im Bereich Naturgefahren, Versorgung mit Rohstoffen/Energie und Entsorgung.

Das Institut für Geologie bietet ein Bachelorstudium «Erdwissenschaften» an mit einer Kombination von Vorlesungen, Seminaren, Exkursionen und Feldarbeit in einer kollegialen Atmosphäre mit individueller Betreuung. Im anschliessenden Masterstudium in Zusammenarbeit mit der Universität Fribourg kann eine Spezialisierung in vielen unterschiedlichen erdwissenschaftlichen Disziplinen angestrebt werden.

Zum Autor

Ivo Schmucki arbeitet als Redaktor bei der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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