Das Italienisch der Gegenwart

Zum ersten Mal findet die internationale Tagung der «Società di Linguistica Italiana» in Bern statt. Die Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler diskutieren Tendenzen des Gegenwartsitalienischen – etwa zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Bruno Moretti, Professor für Italienische Linguistik an der Universität Bern, erläutert aktuelle Entwicklungen und deren Interpretation.

Interview: Salomé Zimmermann 06. September 2018

Die internationale Tagung der Gesellschaft italienischer Sprachwissenschaft – der Società di Linguistica Italiana – findet von 6. bis 8. September 2018 in Bern statt. Warum ausgerechnet in Bern, das nicht italienischsprachig ist?
Bruno Moretti: Bern ist zwar nicht italienischsprachig, aber die Hauptstadt eines Staates, in dem das Italienische eine der nationalen Sprachen ist. In diesem Sinn hat die Durchführung der Tagung in Bern auch einen symbolischen Charakter. Und es ist erst das zweite Mal, dass diese Tagung in der Schweiz erfolgt, nachdem sie 1991 in Lugano stattfand.

Bruno Moretti: «Mit der Urbanisierung und weiteren wichtigen sozio-ökonomischen Umstellungen hat das Italienische zu einem grossen Teil die Dialekte als Alltagssprache ersetzt.» © Universität Bern / Manu Friederich
Bruno Moretti: «Mit der Urbanisierung und weiteren wichtigen sozio-ökonomischen Umstellungen hat das Italienische zu einem grossen Teil die Dialekte als Alltagssprache ersetzt.» © Universität Bern / Manu Friederich

Die Tagung mit dem Titel «Le tendenze dell’italiano contemporaneo rivisitate» diskutiert Tendenzen des Italienisch der Gegenwart. Welche Entwicklungen gibt es denn?
Jede Sprache verändert sich. Aber die Geschwindigkeit – und die Wahrnehmung – dieser Veränderungen kann variieren. Manchmal hat man das Gefühl, dass eine Sprache stillsteht und manchmal, dass Entwicklungen schnell voranschreiten. Die sprachliche Situation Italiens und der Südschweiz war bis ungefähr zur zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts durch eine extrem starke Präsenz der Dialekte im Alltag charakterisiert – ähnlich wie das heutzutage in der deutschsprachigen Schweiz noch der Fall ist. Mit der Urbanisierung und weiteren wichtigen sozio-ökonomischen Umstellungen hat sich diese Situation sehr schnell verändert und das Italienische hat zu einem grossen Teil die Dialekte als Alltagssprache ersetzt. Ein wichtiges Thema, das die Sprachwissenschaft der letzten drei Jahrzehnte dominiert hat, betraf folglich die Frage, was passiert, wenn eine Sprache im Alltag bestehen muss. Wie passt sie sich den neuen Anforderungen der Mündlichkeit und der informellen Kommunikation an? Mit welchen neuen Strukturen kann mehr Expressivität ausgedrückt werden?

Inwiefern werden diese Tendenzen neu interpretiert?
Die neuen Tendenzen der italienischen Sprache wurden vor etwa 30 Jahren gründlich analysiert. Es wurden Entwicklungen festgestellt und Hypothesen zur zukünftigen Weiterentwicklung aufgestellt, die zum grossen Teil nie überprüft wurden. Die Frage, die sich jetzt – mit einem gewissen zeitlichen Abstand – stellt, betrifft die Untersuchung dieser Hypothesen: Haben sich die Phänomene so entwickelt wie prognostiziert? Sind neue Phänomene dazu gekommen? Und welche Konsequenzen haben die neuen Medien, die sich intensiv einer expressiven und informellen Kommunikation im schriftlichen Kanal bedienen?

An der Tagung zu Tendenzen des Italienisch der Gegenwart werden auch die Einflüsse der neuen Medien diskutiert.
An der Tagung zu Tendenzen des Italienisch der Gegenwart werden auch die Einflüsse der neuen Medien diskutiert. Pixabay

Wie sieht denn das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Italienisch heutzutage aus?
Eine der grossen Veränderungen betrifft die Annäherung der Schriftlichkeit an die Mündlichkeit. Als Konsequenz davon spricht man von einer sogenannten Restandardisierung der Sprache. Das beinhaltet eine höhere Akzeptanz von Elementen und Strukturen in der geschriebenen Sprache, die früher nur in der Mündlichkeit möglich waren.

Wie wirkt sich der Einfluss von anderen Sprachen – etwa jener von Migrantinnen und Migranten – auf das Italienische aus?
Die Migration nach Italien unterscheidet sich stark von der Migration in die Schweiz. Aus diesem Grund würde die Beantwortung dieser Frage mehr Platz beanspruchen als hier möglich ist. Sehr interessant ist, dass die Migration der Italiener ins Ausland – beispielsweise auch in die Schweiz – eine ganz wichtige Rolle bei der stärkeren Verbreitung des Italienischen gegenüber den Dialekten gehabt hat. Personen, die verschiedene Dialekte sprachen und einander nicht gut verstanden, mussten plötzlich im Ausland Italienisch reden, um sich mit den anderen Italienerinnen und Italiener zu verständigen. Dies klingt fast paradox, ist aber gut dokumentiert. Zudem hat diese Situation auch zu einer weiteren Verbreitung des Italienischen bei anderen Migrantengruppen wie etwa den Spaniern, Portugiesen, Griechen und Türken geführt.

Die Migration von Italienerinnen und Italienern ins Ausland – beispielsweise auch in die Schweiz – spielte eine wichtige Rolle bei der stärkeren Verbreitung des Italienischen gegenüber den Dialekten.
Die Migration von Italienerinnen und Italienern ins Ausland – beispielsweise auch in die Schweiz – spielte eine wichtige Rolle bei der stärkeren Verbreitung des Italienischen gegenüber den Dialekten. Shutterstock

Wie klingt das Schweizer Italienisch für Italienerinnen und Italiener?
Salopp und stark vereinfacht, hört es sich ähnlich wie das Schweizer Hochdeutsch für Deutsche an. Es gibt einige Unterschiede regionaler Natur, die teilweise ihren Ursprung in den unterschiedlichen Dialekten haben – insofern sind die Unterschiede vergleichbar mit denjenigen in den verschiedenen Regionen Italiens. Besonders für die Schweiz ist aber, dass das Italienische hierzulande die Sprache eines anderen nationalen Staates mit eigenen Institutionen und Gesetzen ist. Aus diesem Grund betrachtet man heutzutage das Italienische als eine «polyzentrische Sprache» – wie etwa das Deutsche, das Englische oder das Französische.

Woran wird geforscht in der italienischen Sprachwissenschaft an der Universität Bern?
Dass die Società di Linguistica Italiana mit diesem Thema nach Bern kommt, ist kein Zufall. Diese Art von Forschungen, zusammen mit Untersuchungen zum Italienischen in der Schweiz, stehen schon lange im Fokus der Abteilung Sprachwissenschaft des Instituts für italienische Sprache und Literatur in Bern.

Zur Person

Bruno Moretti ist seit 2002 ordentlicher Professor für Italienische Linguistik und Leiter des Osservatorio linguistico della Svizzera italiana. Er steht dem Institut für Italienische Sprache und Literatur als Direktor vor und ist als Vizerektor Lehre Teil der Universitätsleitung. Bruno Moretti ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen im Bereich der Soziolinguistik und der Mehrsprachigkeit. Innerhalb seiner Forschungsinteressen nimmt die Untersuchung der sprachlichen Situation in der Schweiz in all ihren Aspekten einen wichtigen Teil ein.

Kontakt:

Prof. Dr. Bruno Moretti
Institut für Italienische Sprache und Literatur, Universität Bern
Telefon direkt: +41 31 631 80 09
Telefon Institution: +41 31 631 83 74
Email: bruno.moretti@rom.unibe.ch

Tagung «Le tendenze dell'italiano contemporaneo rivisitate»

Zum ersten Mal findet die Internationale Tagung der SLI (Società di Linguistica Italiana) in Bern statt, vom 6. bis 8. September 2018. Das Thema lautet «Le tendenze dell’italiano contemporaneo rivisitate», es geht also um Tendenzen der italienischen Sprache der Gegenwart. Die Tagung wird gemeinsam organisiert von der Abteilung Sprachwissenschaft des Instituts für italienische Sprache und Literatur der Universität Bern, des Osservatorio linguistico della Svizzera italiana und des Center for the Study of Language and Society (CSLS) der Universität Bern.

Institut für Italienische Sprache und Literatur

Das Italienische ist ein wesentlicher Bestandteil der schweizerischen Identität, die insbesondere der italienischsprachigen Schweiz eine Vermittlerrolle zwischen den Kulturen Nord- und Südeuropas zuschreibt. Das Institut für Italienische Sprache und Literatur besteht aus zwei Abteilungen, die in Sprach- und Literaturwissenschaft unterteilt sind.

Zur Autorin

Salomé Zimmermann ist Redaktorin in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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