Die führenden Schweizer Steinzeitforscher wurden an den «Tatort» ins 1500-Seelen-Dorf am Jurasüdfuss eingeladen, um die wissenschaftlichen Fragestellungen und die praktischen Vorkehrungen zum Schutz von Funden und Befunden zu besprechen. Im Verhältnis zur Masse der Skelettfragmente fällt die Anzahl der Grabbeigaben recht bescheiden aus: Ans Tageslicht kamen neun Pfeilspitzen, ein Silexmesser, eine Meeresschnecke, eine Steinperle und sechs Schmuckanhänger aus Tierzähnen, die knapp in die Mitte des 4. Jahrtausends v.Chr. datiert werden können. Der Dolmen von Oberbipp bereichert somit den kleinen Bestand an vergleichbaren Kollektivgräbern aus dem Spätneolithikum (3500-2800 v.Chr.) im schweizerischen Mittelland.
Neben diesen archäologischen Ergebnissen bleiben zum Dolmengrab von Oberbipp noch viele brennende Fragen offen, deren Beantwortung von Seiten der Humanbiologie und Anthropologie weiterhin eine Riesenarbeit voraussetzt: Welche Skelettteile gehören zusammen, wie viele Verstorbene fanden in Oberbipp ihre letzte Ruhestätte, wie lauten die Alters- und die Geschlechtsverhältnisse, wie lässt sich der allgemeine Gesundheitszustand der Oberbipper Urbewohner beurteilen, welche Krankheiten, Beeinträchtigungen und Abnützungserscheinungen von harter körperlicher Arbeit können an den Knochenresten nachgewiesen werden, welche biochemischen Labormethoden stehen künftig zur Verfügung, um ein immer ganzheitlicheres Bild der Steinzeitmenschen von Oberbipp nachzeichnen zu können?
Viele Skelettteile von Kindern
Zumindest einige dieser Fragen vermochte Sandra Lösch in ihrem Vortrag zu beantworten: Im Dolmengrab von Oberbipp wurden nacheinander mindestens 40 Individuen zur letzten Ruhe gebettet, obwohl nur 31 Schädel erhalten geblieben sind. Die Nachbestattungen wurden jeweils mit dem Kopf zum Eingangsbereich in gestreckter Rückenlage auf die Skelette der früher Verstorbenen gelegt, die bei diesem Zugriff teilweise durcheinandergebracht worden sein könnten. Vier andere Störzonen lassen sich wohl auf Fuchsbauten zurückführen. «Dokumentiert sind ein Neugeborenes und ein relativ hoher Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen, die mit einem Anteil von über einem Drittel fast zwei Dritteln Erwachsenen gegenüberstehen», so Lösch. Das Zahlenverhältnis von Frauen und Männern ist ziemlich ausgeglichen, was laut Referentin am ehesten für einen Familienclan als Eigentümer und Benützer des Gemeinschaftsgrabs spricht. Wie aus Analysen von Knochenproben nach der 14C-Methode hervorgeht, lässt sich rund die Hälfte der Skelette in einen relativ engen Zeitraum um 3300 v.Chr. einordnen, so dass sich die Frage stellt, ob nicht ein bestimmtes todbringendes Ereignis dahinter stehen könnte. An pathologischen Erscheinungen sind bisher verschiedene Knochenfrakturen wie ein verheilter Oberarmbruch, eine Infektion am Unterschenkel sowie eine Silexpfeilspitze im Oberkiefer eines Individuums nachgewiesen, die zweifellos auf externe Gewalt hindeutet.
Warten aufs biochemische Speziallabor
Für die Beantwortung der vielen weiterführenden Fragen suchte Sandra Lösch die Zusammenarbeit mit dem renommierten deutschen Biochemiker Dr. Johannes Krause, der als Honorarprofessor an der Universität Tübingen und seit 2014 als Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena tätig ist. 2014 wurde ein auch in der Schweiz breit abgestütztes interdisziplinäres Forschungsprojekt beim Schweizerischen Nationalfonds eingereicht, das inzwischen bereits erfolgreich angelaufen ist. Die Anthropologin wartet auf ein biochemisches Speziallabor, das im grossen Neubau an der Murtenstrasse 24 in Bern eingerichtet wird und in dem künftig unter höchsten Schutzanforderungen an DNA-Sequenzen, mit dem Protein Kollagen und dem Mineral Apatit, dem Grundbaustein beim Aufbau von Knochengewebe und Zahnschmelz, geforscht werden soll. Die Referentin erhofft sich dabei nicht nur die Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse und ein besseres Verständnis der Ernährungsgewohnheiten der Steinzeitmenschen von Oberbipp, sondern auch Aufschlüsse über die damaligen Migrationsbewegungen aus dem Nahen Osten nach Mitteleuropa.