Das Experiment
21.30 Uhr: Der Bauch des Tiers hebt und senkt sich gleichmässig. Ein Intensivpfleger aus der Humanmedizin, der als rechte Hand von Casoni fungiert, legt einen Venenkatheter. Die Ausrüstung vom OP-Tisch bis zum chirurgischen Besteck ist exakt dieselbe wie beim Menschen. Das Operationsteam besteht aus sieben Personen, darunter zwei Chirurginnen und Studierende, die wie immer bei einer solchen Operation dabei sein können. Es wird meist englisch gesprochen, da Nationen wie Kolumbien, China und Deutschland vertreten sind. Ausser dem Intensivpfleger besteht das Team ausschliesslich aus Frauen. Robert Rieben ist auch anwesend, um den ersten Teil des Experiments mitzuverfolgen. Die Atmosphäre ist konzentriert, aber gelöst. Eine Veterinärin und eine Studentin werden das Tier nach der Operation die ganze Nacht betreuen und überwachen. «Während dieser Nachtschicht können sie auch an ihren Papers weiterarbeiten oder ihre E-Mails beantworten, so wie ich das manchmal mache, wenn ich eine Nachtschicht übernehme», sagt Rieben.
22.37 Uhr: Das Schwein wird vorsichtig gewendet und für den Schnitt vorbereitet. Immer wieder spricht sich das Team kurz ab. Die beiden Chirurginnen leisten diesen Einsatz in ihrer Freizeit, aus Interesse an der Forschung. Auch sie arbeiten normalerweise in der Humanmedizin. Mit einem sogenannten Laserdoppler wird die Durch-blutung in der Haut des Vorderbeins gemessen, das amputiert werden soll. Nach der Reperfusion wird diese erneut gemessen und verglichen. Ebenso werden später Proben im Labor untersucht, um den Reperfusionsschaden auch in den Organen zu messen, der dereinst dank der neuen Methode von Riebens Team verhindert werden soll. Daniela Casoni sitzt an ihrem «Arbeitsplatz» neben dem Anästhesiegerät. Dieses führt dem Tier einerseits Sauerstoff und das Narkosegas zu und misst andererseits gleichzeitig den CO2-Gehalt seiner Atemluft. Insgesamt zehn klinische Werte werden im Experiment gemessen, hinzukommen die Laboruntersuchungen. Casoni führt ein Anästhesieprotokoll, das sie alle fünf Minuten nachträgt. Ein Monitor würde draussen die Werte alle fünf Sekunden anzeigen, «aber ich ziehe es vor, drinnen beim Tier zu bleiben», sagt Casoni.
23.00 Uhr: Der Schnitt beginnt. Mit einem Elektrokauter, einem Elektroskalpell, wird das Gewebe mittels hochfrequentem Wechselstrom, der eine starke Wärme erzeugt, durchtrennt. Dies geschieht nahezu geräuschlos, ab und zu steigt etwas Rauch auf. Es riecht nach verbranntem Haar. Die Methode hat den Vorteil, dass gleichzeitig mit dem Schnitt auch Blutgefässe verschlossen werden und somit die Blutung gestillt wird. Niemand spricht mehr, die Stimmung ist beinahe meditativ.
Die wichtigsten Blutgefässe werden freigelegt: Eine rote Arterie und zwei bläuliche Venen. Über eine Kamera lässt sich die Operation an einem Bildschirm verfolgen. Um 23.54 Uhr stoppt Casoni die Uhr, damit sie nicht vergisst, die Ischämie genau um Mitternacht zu beginnen.
00.00 Uhr: Das Bein ist abgetrennt und die Blutzufuhr unterbrochen. Die Ischämie beginnt und wird nun neun Stunden andauern. «Wir simulieren so realistisch wie möglich eine Unfallsituation, in der niemand zum Patienten kommt», erklärt Rieben. Dafür wird das Bein über Nacht bei Raumtemperatur aufbewahrt. Die so entstehenden Schäden werden untersucht und dienen als Kontrolle, um die Wirksamkeit der von Rieben entwickelten Kombi-Methode in einer anderen Vergleichsgruppe von Schweinen nachzuweisen. Insgesamt werden für das Projekt über drei Jahre hinweg 58 Schweine in elf Gruppen verwendet.