Anfang Oktober 2021 machten Filmaufnahmen von illegalen Push-backs an der kroatischen Grenze international Schlagzeilen: Kroatische Spezialeinheiten schlagen auf Asylsuchende ein, um sie über die EU-Aussengrenze zurück nach Bosnien-Herzegowina zu treiben. Ausnahmezustand auch an der polnisch-belarussischen Grenze, auf Lesbos und anderen griechischen Inseln, in weiten Teilen des Mittelmeers und im Ärmelkanal. So liess sich die aktuelle Situation an den europäischen Grenzen umreissen, als zur selben Zeit unter dem Titel «Crisis at the Border» die «Anthropology Talks» der Universität Bern stattfanden.
Festung Europa
Das Durchqueren von europäischen Grenzgebieten ist für Menschen auf der Flucht äusserst schwierig und gefährlich geworden, oft eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod. In den Grenzgebieten treffen sie auf bewaffnete Sicherheitskräfte, Polizei und Armee, auf rechte Milizen, auf Stacheldrahtzäune und Mauern. Die Verletzung und Einschränkung ihrer Grundrechte sind für sie Alltag.
Vor über 30 Jahren, mit der Gründung des Schengen-Raums, verschwanden die europäischen Grenzen für europäische Bürgerinnen und Bürger fast gänzlich, gleichzeitig wurden eben diese Grenzen ausgebaut und aufgerüstet, um Menschen, die von staatlicher Seite als «Risiko» eingeschätzt werden, auszugrenzen. Dies betrifft insbesondere Menschen auf der Flucht.
In der europäischen Immigrationspolitik ist im Zusammenhang mit «Migrationsströmen» selten die Rede von Flüchtlingen, ein Begriff, der auf der Grundlage internationaler Abkommen mit expliziten Rechten verbunden wäre. Viel häufiger ist die Rede von Migrantinnen und Migranten, die in Form einer «Welle», «Flut» oder eben «Krise» Europa «Unsicherheit und Bedrohung» bringen.
In ihrem Projekt «Crisis at the Border» ergründen die Sozialanthropologinnen und Sozialanthropologen Didier Fassin, Anne-Claire Defossez, Judith Marcou und Lorenzo Alunni, wie «Krise» zum gängigsten Ausdruck für Massnahmen und Situationen an Grenzen wurde. In diesem Zusammenhang erforschen sie ethnografisch, wie sich die gegenwärtige europäische Immigrationspolitik auf Grenzgebiete sowie die Protagonistinnen und Protagonisten vor Ort auswirkt.
«Die Inszenierung der Grenzen»
In seinem Vortrag machte uns Didier Fassin mit einem Grenzgebiet bekannt, das kaum je in den internationalen Schlagzeilen landet. Schauplatz ist das französische Städtchen Briançon am Fusse des Col de Montgenèvre, im Winter ein beliebtes Skigebiet und im Sommer bekannt für seine Golfplätze. Neben dem Tourismus ist die Region auch von ihrer jahrhundertealten Migrationsgeschichte geprägt, da der Col de Montgenèvre als der niedrigste Pass im Alpengebiet zwischen Frankreich und Italien bekannt ist. Seit 2015, unter anderem durch die Verschärfung von Italiens Migrationsgesetzen, versuchen wieder mehr und mehr Menschen auf der Flucht, «Exilés» wie Fassin sie nennt, den Pass zu überqueren. Dies hatte zur Folge, dass sich die fast offene Grenze zu einem stark militarisierten Gebiet wandelte.