Im Exil weiterforschen

Das internationale Netzwerk Scholars at Risk (SAR) ermöglicht verfolgten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, auch im Exil wissenschaftlich zu arbeiten. Im Rahmen von SAR forschte der türkische Professor Veysel Demir an der Universität Bern – ein Gewinn für beide Seiten.

Von Barbara Spycher 13. Oktober 2020

Der kurdische Chemie- und Umweltingenieur Veysel Demir flüchtete aus der Türkei in die Schweiz und wurde «Scholar at Risk» an der Universität Bern. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel.
Der kurdische Chemie- und Umweltingenieur Veysel Demir flüchtete aus der Türkei in die Schweiz und wurde «Scholar at Risk» an der Universität Bern. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel.

«Ich fragte Schweizer Hochschulen an, ob ich unentgeltlich arbeiten könnte», sagt Veysel Demir, kurdischer Chemie- und Umweltingenieur aus der Türkei. «Denn ich wollte einfach das machen, was ich seit 25 Jahren tue: wissenschaftlich arbeiten.» Vor vier Jahren schien das plötzlich nicht mehr  möglich. Nach dem gescheiterten Putschversuch flüchtete der Professor aus der Türkei, beantragte in der Schweiz Asyl und lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einem Asylbewerberzentrum im bernischen Konolfingen. Von dort suchte er im Internet nach Möglichkeiten, in der Schweiz an einer Hochschule zu arbeiten und stiess auf das internationale Netzwerk Scholars at Risk (SAR). Dieses vermittelt verfolgten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern temporäre Anstellungen im Exil, damit sie ihre akademische Karriere möglichst gut und ohne Unterbruch weiterverfolgen können.

Eine solche Anstellung fand der 44-jährige Veysel Demir an der Universität Bern: Im September 2017 wurde er im Rahmen des SAR-Programms zu 20 Prozent im Zentrum für Fisch- und Wildtiermedizin (FIWI) angestellt. Während zwei Jahren ging er der Frage nach, welche toxischen Prozesse Nanopartikel auslösen, wenn sie auf isolierte Fischzellen treffen. 2019 publizierte er darüber in einem international anerkannten Journal. Der türkische Forscher sagt: «Für meine wissenschaftliche Laufbahn ist es sehr wichtig, publizieren zu können und damit zu zeigen, dass ich aktiv bin.»

Veysel Demir in einem Labor des Zentrums für Fisch- und Wildtiermedizin der Universität Bern. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel
Veysel Demir in einem Labor des Zentrums für Fisch- und Wildtiermedizin der Universität Bern. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

Unterstützung für Kolleginnen und Kollegen in Not

Dieses Argument hat Helmut Segner, damaliger FIWI-Direktor, sofort eingeleuchtet, als er vor drei Jahren von Veysel Demir angefragt wurde, als SAR Scholar bei ihm forschen zu können: «Wenn man ein oder zwei Jahre nicht mehr publiziert, dann wird es schwierig, wenn man sich um eine Stelle oder um Forschungsgelder bewirbt.» Deshalb war für Segner schnell klar: Wenn das Formale geregelt und ein sinnvolles Forschungsthema gefunden werden kann, «dann machen wir das». «Als Universität haben wir auch eine gesellschaftliche Verantwortung, einen Kollegen in Not zu unterstützen», sagt Segner. Um die formalen Fragen rund um Finanzierung, Anstellung und die Abklärungen mit den Migrationsbehörden kümmerte sich die SAR-Koordinatorin der Universität Bern. «Sonst ärgern wir uns manchmal über die Administration, aber in diesem Fall hat sie mich enorm unterstützt und mir diesen Teil der Arbeit abgenommen», erzählt Segner. Aus arbeitsrechtlichen Gründen durfte Demir nicht ehrenamtlich arbeiten, sondern brauchte eine minimale Anstellung. Finanziert wurde dies anteilsmässig von der Universität, der Fakultät und vom Scholar Rescue Fund IIE-SRF.

Nanopartikel-Spezialist Veysel Demir und Fischzellen-Spezialist Helmut Segner entwickelten gemeinsam ein Forschungsprojekt. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel
Nanopartikel-Spezialist Veysel Demir und Fischzellen-Spezialist Helmut Segner entwickelten gemeinsam ein Forschungsprojekt. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

Segner und Demir ihrerseits legten ihre Expertisen zusammen, um ein geeignetes Forschungsprojekt zu finden. Demirs Spezialgebiet sind Nanopartikel, Segner hat viel Erfahrung mit isolierten Zellen. Den Institutsdirektor beeindruckte die Bereitschaft und Offenheit des Wissenschaftlers im Exil, sich auf ein neues Fachgebiet, die Arbeit mit isolierten Zellen, einzulassen. «Ich war dankbar für diese Chance und fand: Ich probiere es», sagt Demir. Diese positive, aufgeschlossene Art zeichnet ihn aus. Dadurch konnte er seine beruflichen Kompetenzen erweitern. Auch für seine Integration in der Schweiz war die temporäre Anstellung hilfreich. Er besuchte an der Universität einen Deutschkurs, ass mit Arbeitskollegen zu Mittag, nahm an Institutsausflügen teil. «Ich war nicht mehr isoliert, sondern wieder Teil der Gesellschaft», sagt er. Helmut Segner wiederum findet: «Es war für alle im Institut lehrreich, persönlich einen Menschen kennenzulernen, für den Freiheit und Sicherheit alles andere als selbstverständlich sind.»

Tausende von Professorinnen und Professoren auf einen Schlag entlassen

Während drei Jahren wussten Veysel Demir und seine Familie nicht, ob ihr Asylantrag gutgeheissen würde. Diese Unsicherheit und die Angst, zurückgeschafft zu werden, war belastend. Noch immer sitzen in der Türkei zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Gefängnis, darunter auch zwei Brüder sowie Freunde von Demir. Er selber arbeitete als assoziierter Professor an der Tunceli Universität und wurde am Tag nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 entlassen – so wie Tausende andere Professoren im Land. Noch am selben Tag wurde sein Haus durchsucht, seine digitalen Geräte und der Pass wurden von der Polizei konfisziert. Um nicht wie viele andere Kolleginnen und Kollegen inhaftiert zu werden, entschieden Veysel Demir und seine Frau innert zwei Wochen, das Land zu verlassen und in der Schweiz, wo Familienangehörige leben, Asyl zu beantragen. Mittlerweile wurden Demir und seine Familie als Flüchtlinge anerkannt und er sagt: «Uns geht es besser als den meisten in der Türkei: wir leben in Sicherheit.»

Veysel Demir und seine Familie sind in der Schweiz in Sicherheit – und er kann wieder forschen. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel.
Veysel Demir und seine Familie sind in der Schweiz in Sicherheit – und er kann wieder forschen. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel.

Bessere Chancen dank Einstieg an der Universität Bern

Aktuell forscht Veysel Demir als Gastprofessor am Wasserforschungsinstitut der ETH (Eawag). Im Februar 2021 endet sein befristeter Vertrag, ab dann sucht er eine feste Stelle als Postdoktorand an einer Schweizer Hochschule. Auch wenn das nicht einfach ist: Der Einstieg an der Universität Bern hat seine Chancen gesteigert, und dafür ist er insbesondere Helmut Segner dankbar. «Das Wichtigste, damit ein Scholar at Risk reüssieren kann, ist die Bereitschaft und die Offenheit des gastgebenden Professors oder der gastgebenden Professorin», ist Veysel Demir überzeugt. Diese habe er bei Helmut Segner von Anfang an gespürt. Segner meint: «Ein Scholar at Risk stand nicht auf meiner Agenda, aber oft sind es diese unerwarteten Wendungen, welche die Forschung und das Leben spannend machen.»

«Scholars at Risk (SAR)» an der Universität Bern

In vielen Ländern der Welt werden die akademische Freiheit unterdrückt und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verfolgt, ins Gefängnis gesperrt und gefoltert. Aus Solidarität ist die Universität Bern seit 2016 Mitglied beim internationalen Netzwerk «Scholars at Risk» und hat aktuell die Kapazität, eine neue oder einen neuen «Scholar at Risk» aufzunehmen. Die Koordinationsstelle bei UniBE International informiert und berät Institute, die eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler hosten wollen und Personen, die SAR-Scholar an der Universität Bern werden möchten. Die Anonymität von interessierten Personen wird auf jeden Fall gewährleistet.

Zur Autorin

Barbara Spycher ist freie Journalistin.

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