Ein bisschen Poesie schadet nie

Der türkische Autor Nedim Gürsel ist elfter Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur an der Universität Bern. An der Auftaktveranstaltung in der Burgerbibliothek Bern sprach er über seine Texte und die Notwendigkeit der Kritik.

Von Vera Jordi 08. März 2019

Ein Journalist fährt für eine Reportage nach Damaskus, eine einst herrliche Stadt, in der sich heute Muslime im Namen des Islam gegenseitig töten sollen. Prompt fällt er einem Attentat zum Opfer und landet daraufhin im Himmelreich – so lautet der Plot*. Um sich dem Berner Publikum vorzustellen, hat Nedim Gürsel eine Kurzgeschichte mit dem Titel Une saison au paradis (2015) gewählt:

Parodie des Paradieses

Es ist immer Morgen, der Tag liegt vor einem, still und gemütlich. Man(n) ist nie müde, nie hungrig. Siebzig unberührte Frauen warten darauf, mit einem zu schlafen – und erlangen nach dem Koitus ihre Jungfräulichkeit zurück, sodass das lustvolle Treiben kein Ende nimmt. Aus der Sicht des Ich-Erzählers ist das Paradies nur ein paar Tage lang paradiesisch, danach wird der Spass richtig anstrengend. Und bald schon wünscht er sich, zusammen mit den durch den Koran verurteilten Poeten, die ihn zu Lebzeiten inspirierten, in der Hölle zu weilen.

Satirisch? Absolut. Provokativ? Auch. Gürsels neuestes Werk sorgt sowohl für Schmunzeln als auch für irritierte Blicke im Hallersaal der Burgerbibliothek Bern. «Mein Ziel ist und war es nie, den Islam oder sonst eine Religion zu beleidigen», erklärt der Gastprofessor später. Er sähe es jedoch als seine Pflicht an, Kritik zu üben.

Der türkische Autor Nedim Gürsel ist elfter Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur an der Universität Bern. © Astrid di Crollalanzla
Der türkische Autor Nedim Gürsel ist elfter Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur an der Universität Bern. © Astrid di Crollalanzla

Gürsels Weg zum Literaten nahm schon früh seinen Lauf. Der heute 68-Jährige erinnert sich: «Im Alter von neun Jahren habe ich mein allererstes Gedicht verfasst – über den Ruhm und die Verdienste Atatürks. Damals besuchte ich die Primarschule in Balikesir und bediente mich den Inhalten, die mir dort vermittelt wurden». Sein Interesse wandelte sich, schon bald schrieb er erotische Haikus und sparte sein Taschengeld, um sich heimlich ein Buch des türkischen Poeten Nazim Hikmet zu kaufen. «Da war ich vierzehn», erinnert sich Gürsel, «und Hikmets Texte wurden zum ersten Mal in der Türkei publiziert – eine Sensation!».  Die Lyrik des kommunistischen Dichters war später auch Gegenstand seines Studiums und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. An der Pariser Sorbonne promovierte Nedim Gürsel mit einer komparatistischen Arbeit und lehrte in der Folge türkische Literatur. Daneben machte er sich als Autor von Reiseberichten, Kurzgeschichten und Romanen international einen Namen. Für seinen ersten Erzählband Un long été à Istanbul (1976, dt. «Ein Sommer ohne Ende») wurde Gürsel einerseits mit dem Preis der Akademie der türkischen Sprache ausgezeichnet. Andererseits klagte ihn der türkische Militärstaat an, weil er die Sicherheitskräfte und die Armee beleidigt hätte. Gleiches geschah nach der Veröffentlichung seiner Romane La première femme (1986, dt. «Die erste Frau») und Les filles d’Allah (2008, dt. «Allahs Töchter») wegen Sittenverstoss beziehungsweise Verunglimpfung der religiösen Werte des Volkes. Sämtliche Prozesse endeten mit einem Freispruch. Dennoch: Nedim Gürsel bewegt sich mit seinen Texten noch immer auf dünnem Eis, weswegen er trotz regelmässigen Reisen nach Istanbul heute mehrheitlich in Paris lebt.

Poesie für den Papst

Das Unterwegssein gehört aber zu Gürsels Alltag: Als Autor und Experte nimmt er zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen in der Türkei Stellung, tritt im Fernsehen auf und schreibt auch Kolumnen. Vor rund sechs Jahren führte ihn eine Konferenz für interreligiösen Dialog nach Italien, wo er Bekanntschaft mit dem Papst höchstpersönlich machen sollte. In gewohnt schelmischer Weise packte er seinen damals neuen Roman L’ange rouge (2012, nicht übersetzt) als Geschenk in seinen Koffer und überreichte ihn kommentarlos dem Oberhaupt der katholischen Kirche. Dieses ahnte nicht, dass es durch seine Lektüre nicht etwa mit einem bislang unbekannten Himmelsgeschöpf, sondern mit dem kommunistischen Autor Nazim Hikmet konfrontiert werden würde. Als Nedim Gürsel diese Anekdote im Berner Hallersaal lachend zum Besten gibt, lernt das Publikum den zu Beginn eher ernsten Schriftsteller doch noch von seiner spitzbübischen Seite kennen: Ein bisschen Poesie würde doch jedem guttun, sagt er.

Seine aktuellste Reise hat ihn nun also nach Bern geführt. Nach seinen Plänen in der Hauptstadt gefragt, erzählt er: «Neben dem Unterrichten gibt es einiges zu entdecken. Ich bin schon erwartungsvoll zum Bärengraben gefahren, aber die Bären halten wohl noch Winterschlaf. So habe ich mir stattdessen die vielen Brunnen angesehen.» Einer von ihnen hat es Nedim Gürsel besonders angetan: der Kindlifresserbrunnen. Über seine Geschichte wolle er mehr erfahren und auf deren Grundlage vielleicht sogar eine Novelle verfassen, so Gürsel.

Wir sind gespannt.

*vgl. Une saison au paradis. In: Gürsel, Nedim: Étreintes dangereuses. Le Passeur Éditeur. 2018. S.79-87.

Zur Person

Nedim Gürsel wurde 1951 in Gaziantep (Türkei) geboren. Er studierte Komparatistik an der Sorbonne in Paris, wo er auch promovierte. Nach dem Militärputsch 1980 wurden Gürsels Werke in der Türkei verboten, weshalb er seither in Frankreich lebt. Für seinen ersten Erzählband Un long été à Istanbul (1976, dt. «Ein Sommer ohne Ende») wurde Gürsel mit dem Preis der Akademie der türkischen Sprache ausgezeichnet. Es folgten rund drei Dutzend Romane, Novellen und Essays. Wegen seines autobiographischen Romans Les filles d’Allah (2008, dt. «Allahs Töchter») führte die türkische Justiz gegen Gürsel ein Strafverfahren wegen «Verunglimpfung der religiösen Werte des Volkes», das 2009 mit seinem Freispruch endete. 2016 erschien sein neuester Roman, Le fils du capitaine (dt. «Der Sohn des Hauptmanns»). Gürsels Werke wurden in 25 Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur

Der Name Friedrich Dürrenmatt steht für eine vielseitige Weltliteratur in Bern: Der aus dem Kanton stammende Schriftsteller, der an der Universität Bern studierte, verfasste Prosatexte und Essays sowie Arbeiten für Theater und Radio, die in zahlreichen Zusammenhängen und Sprachen wahrgenommen wurden.

Im Herbst 2013 wurde an der Universität Bern die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur eingerichtet. Sie dient der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Literatur, Theorie und Praxis, Universität und Öffentlichkeit. Seit dem Frühjahr 2014 unterrichtet in jedem Semester eine internationale Autorin oder ein internationaler Autor als Gast des Walter Benjamin Kolleg an der Universität Bern. Sie oder er gibt ein Seminar und nimmt an öffentlichen Veranstaltungen in Bern sowie an anderen Orten in der Schweiz teil. Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur wird verwirklicht mit Unterstützung der Stiftung Mercator Schweiz und der Burgergemeinde Bern.

Der türkische Autor Nedim Gürsel ist der elfte Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor. Seine Vorgänger waren David Wagner (Deutschland), Joanna Bator (Polen), Louis-Philippe Dalembert (Haiti), Wendy Law-Yone (Burma), Fernando Pérez (Kuba), Wilfried N’Sondé (Kongo), Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien), Josefine Klougart (Dänemark), Xiaolu Guo (China) und Peter Stamm (Schweiz).

Zur Autorin

Vera Jordi ist Projektassistentin von Prof. Oliver Lubrich am Walter Benjamin Kolleg.

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