«Religionsforschung muss auf gesellschaftliche Fragen antworten»

Was bedeutet es, in der heutigen pluralisierten Welt «religiös» zu sein? Das ist nur eine von vielen aktuellen Fragen, die vom 17. bis 21. Juni an der internationalen Tagung «Multiple Religious Identities» an der Universität Bern diskutiert werden. Professor Jens Schlieter, Professor für Religionswissenschaft der Universität Bern, ist überzeugt, dass Religion weder der Vergangenheit, noch der Ferne angehört.

Von Nathalie Matter 01. Juni 2018

«uniaktuell»: Wie definieren Sie persönlich «Religion»?
Jens Schlieter: Die schwierigste Frage direkt zu Beginn! Persönlich würde ich Religion mit der individuellen und gemeinschaftlichen Bewältigung all dessen in Zusammenhang bringen, über das Menschen nicht bestimmen – vor allem Sterblichkeit und Endlichkeit. Das Problem ist, dass jede Definition von Religion eine Theorie in kürzester Form darstellt. Setzt man, wie gerade geschehen, bei der Funktion von Religion an, kommen Vorstellungen über Gott, Götter, Transzendenz, oder Moral und Ethik, erst an zweiter Stelle. Dies obwohl sie in vielen Traditionen sehr zentral sind. Jedenfalls sollte eine Definition für Religion auch nicht-monotheistische Traditionen, etwa die buddhistischen, einschliessen – sonst taugt sie nichts.

 

Was ist der Unterschied zwischen einer religiösen Identität und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion? Ist Atheismus auch eine religiöse Identität?

Die britische Soziologin Grace Davie, die auch auf unserer Tagung sprechen wird, hat schon 1990 von einem Trend zum «believing without belonging» gesprochen. Der Glaube als Ausdruck religiöser Identität habe weniger stark abgenommen als die konfessionelle Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Zugleich gibt es auch «belonging without believing». Viele, die einer Kirche angehören, sind distanziert oder gar kritisch. Das gilt auch für die Schweiz. Die Frage, wie nun Atheismus oder «Nicht-Glaube» religionswissenschaftlich beschrieben werden kann, wird intensiv diskutiert. Auch wenn manche Atheisten ihre Sache mit geradezu religiösem Eifer vertreten, ist es nach Meinung vieler keine Religion. Atheisten verfolgen den Unglauben ja selten als gemeinschaftliche Praxis. Sie verbinden mit Atheismus sehr unterschiedliche Dinge. Aber sicher gilt: ohne Religion auch kein Atheismus.

Die Identität einer religiösen Tradition wird aus eigener Sicht häufig mit dem Bild oder der Metapher eines Baumes veranschaulicht: Alles ist aus einem Stamm hervorgegangen. Neue Glaubensformen sind, wie die neu gepflanzten Bäume (am linken und rechten Bildrand), nicht autorisiert. Darstellung von William Cave (1637-1713). Bild: Wellcome Library no. 36255i / Wellcome Collection
Die Identität einer religiösen Tradition wird aus eigener Sicht häufig mit dem Bild oder der Metapher eines Baumes veranschaulicht: Alles ist aus einem Stamm hervorgegangen. Neue Glaubensformen sind, wie die neu gepflanzten Bäume (am linken und rechten Bildrand), nicht autorisiert. Darstellung von William Cave (1637-1713). Bild: Wellcome Library no. 36255i / Wellcome Collection
Welches sind die Herausforderungen der internationalen Religionsforschung heute?

Die Herausforderung ist, überkommene Vorstellungen in Frage zu stellen. Beispielsweise hört man oft, dass Religion bei uns weitgehend eine Sache der Vergangenheit sei und irgendwo in der Ferne stattfinde. Dort, in der Ferne, seien aber religiös aufgeladene Konflikte an der Tagesordnung. Religion sei per se nicht kompatibel mit einem modernen Staat mit kultureller Vielfalt, oder auch der Wissenschaft. Das zeichnet natürlich hier wie dort ein viel zu einfaches Bild. Das zeigen Ergebnisse der internationalen Religionsforschung, die auf der Tagung präsentiert werden.

Die European Association for the Study of Religions (EASR) tagt erstmals in der Schweiz. Warum?

Die European Association for the Study of Religions ist der europäische Dachverband aller nationalen Fachgesellschaften für die Erforschung von Religion und Religionen. Seit dem Jahr 2000 richten je andere Standorte die Jahrestagung der EASR aus. Auch weil die Religionsforschung an schweizerischen Universitäten an Bedeutung gewonnen hat, konnten wir die Tagung jetzt erstmals in die Schweiz holen, worüber wir uns sehr freuen. Organisiert wird sie vom Berner Institut für Religionswissenschaft und der Schweizerischen Gesellschaft für Religionswissenschaft (SGR-SSSR).

Das Thema Religion wird auch auf dem politischen Parkett heiss diskutiert. Welchen Stellenwert hat die Tagung für die Politik?

Mit dem Tagungsthema «multiple religiöse Identitäten» reagieren wir unter anderem auf die starken Polarisierungen im Feld der Religion, die oft feste religiöse Identitäten voraussetzen. Es gibt aber sowohl auf der Ebene der Einzelnen, der Gemeinschaft, der Traditionen, oder ganzer Nationen nur selten klare religiöse Identitäten. Einzelne beschreiben sich beispielsweise zugleich als religiös und säkular, oder sind in ihren Praktiken und Auffassungen zugleich Christ und Buddhist. Fragen wie etwa, ob der Islam zu Europa gehöre, oder ob die Schweiz noch ein christliches Land sei, werden leider nur selten auf wissenschaftlich fundierter Grundlage beantwortet. Identitätsfragen sind eminent politisch. Gerade deshalb ist es wichtig, die Prozesse zu erforschen, wie sich Identitäten bilden und zur Norm erklärt werden. Gute Forschung kann nur gedeihen, wenn starke Vorannahmen und politische Interessen erst einmal zurückgestellt werden.

Unorthodoxe Darstellungen der Trinität als drei-einiges Gesicht wie hier von einem unbekannten russischen Künstler des frühen 20. Jahrhunderts können die Problematik multipler religiöser Identitäten auch in der Welt der Menschen gut vor Augen führen. Bild: Wikimedia Commons
Unorthodoxe Darstellungen der Trinität als drei-einiges Gesicht wie hier von einem unbekannten russischen Künstler des frühen 20. Jahrhunderts können die Problematik multipler religiöser Identitäten auch in der Welt der Menschen gut vor Augen führen. Bild: Wikimedia Commons
Welche Fragen muss sich die Religionsforschung in Zukunft stellen?

Die Religionsforschung muss auf gesellschaftliche Fragen antworten und die Rolle von Religion auch in Bezug auf konkrete Konflikte, oder ihre Bedeutung in den jüngsten Migrationsprozessen erforschen. Aber sie darf dabei die grossen Theorien und die globalen Kontexte nicht aus dem Blick verlieren. Von künftigen Religionsforschenden wünsche ich mir, dass sie nicht nur mit sozialwissenschaftlichen Methoden tagesaktuelle Fragen beantworten. Tatsächlich haben sich religiöse Traditionen früh global verbreitet, wenn nicht gar globalisiert, und sich dabei in vielen Hinsichten wechselseitig beeinflusst. Die historische Erforschung dieser Verflechtungen ist auch wichtig. Sie hilft dabei, zentrale Fragen wie etwa die nach einem zunehmenden Bedeutungsverlust von Religion eben nicht nur für westliche moderne Gesellschaften zu stellen und zu beantworten.

ZUR PERSON

Jens Schlieter ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Religionswissenschaft der Universität Bern und seit 2009 ausserordentlicher Professor für systematische Religionswissenschaft. Er studierte Philosophie, Vergleichende Religionswissenschaft, Tibetologie und Buddhismuskunde (sowie Sanskrit- und Pali-Studien) in Bonn und Wien. Anschliessend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten München (LMU) und Bonn. Von 2005 bis 2009 war er Assistenzprofessor am Institut für Religionswissenschaft er Universität Bern.

Kontakt:
Prof. Dr. Jens Schlieter
Institut für Religionswissenschaft, Universität Bern
Telefon direkt: +41 31 631 59 76 
Telefon Institution: +41 31 631 35 81
Email: jens.schlieter@relwi.unibe.ch

EASR-Jahrestagung «Multiple Religious Identities»

Zum ersten Mal findet die alljährliche renommierte Tagung der European Association for the Study of Religions (EASR) in der Schweiz statt, ausgerichtet vom Institut für Religionswissenschaft der Universität Bern. Über 500 Religionsforschende aus aller Welt werden vom 17. bis 21. Juni 2018 in Bern zentralen aktuellen Fragen nachgehen: Trägt der Individualismus in der globalen Moderne dazu bei, dass eine immer grössere Vielfalt an religiösen Praktiken und Gemein-schaften entsteht? Was bedeutet es, in einer zunehmend säkularen und pluralen Welt «religiös» zu sein? Wie trägt man der Tatsache Rechnung, dass Menschen zunehmend Lehren und Praktiken unterschiedlicher Religionen gleichzeitig befolgen und ausüben?
Daneben stehen die Theorien und Methoden der Erforschung von Religion und Religionen selbst im Zentrum des Interesses – bis hin zur Frage, was «Religion» überhaupt ist.

Institut für Religionswissenschaft

Am Institut für Religionswissenschaft der Universität Bern sind zwei Disziplinen in Forschung und Lehre vertreten: Religionswissenschaft und Zentralasiatische Kulturwissenschaft.  So befasst sich die Forschung am Institut einerseits zu buddhistischen Traditionen in Tibet, der Mongolei und Indien, aber auch zu theoretischen Fragen wie Religion und Gemeinschaft oder zu Nahtodberichten als Ausdruck religiöser Erfahrungen in der Moderne.

ZUR AUTORIN

Nathalie Matter ist Redaktorin PR/Media bei Corporate Communication.

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