Humboldt heute: Wissenschaften zusammendenken

Alexander von Humboldt (1769–1859) ist ein faszinierender Forscher, dessen Aktualität heute wiederentdeckt wird. Er steht für das kreative Zusammendenken verschiedener Formen des Wissens. Die aktuelle Vorlesungsreihe des Collegium generale führt uns mit Humboldt auf eine Entdeckungsreise durch diverse Länder und Fächer – und Institutionen in Bern.

Von Oliver Lubrich 14. Februar 2018

Wie verändert das Reisen das Denken? Wie verteilen sich Pflanzen über die Kontinente? Wie beeinflussen wir Menschen das Klima? Diesen und weiteren Fragen geht die aktuelle Vorlesungsreihe des Collegium generale nach, die den Versuch unternimmt, mit Alexander von Humboldt verschiedene Wissenschaften zusammenzuführen. Die Reihe will Bezüge aufzeigen zwischen seiner originellen Arbeit und heutigen Forschungsfragen.

Von den Anden nach Sibirien

Alexander von Humboldt wurde weltberühmt durch seine Forschungsreisen: insbesondere nach Amerika (1799–1804) und Asien (1829). Er fuhr auf dem Orinoco und bestieg den Chimborazo, durchquerte Sibirien und begegnete chinesischen Grenzwächtern. 

Alexander von Humboldt wurde noch als Greis vor dem Chimborazo dargestellt, den er 1802 bestiegen hatte. (Julius Schrader, 1859, The Metropolitan Museum of Art, New York.)
Alexander von Humboldt wurde noch als Greis vor dem Chimborazo dargestellt, den er 1802 bestiegen hatte. (Julius Schrader, 1859, The Metropolitan Museum of Art, New York.)

Seine Beobachtungen veröffentlichte Humboldt in einer Reihe von Buchwerken, überwiegend in französischer Sprache: Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de l’Amérique, Essai sur la géographie des plantes oder Asie centrale. Auf Deutsch verfasste er die populären Ansichten der Natur und sein letztes Werk, das «die ganze Welt in einem Buch» darstellt, den Kosmos.

Die ganze Welt in tausend Schriften

Neben seinen rund 25 Büchern (in 50 Bänden) veröffentlichte Humboldt in Zeitschriften, Zeitungen und den Werken anderer Autoren zahlreiche Aufsätze, Artikel und Essays. Bei diesen «verstreuten» Schriften handelt es sich um mehr als 1000 Texte, die mit Nachdrucken und Übersetzungen zu seinen Lebzeiten mehr als 3000 mal veröffentlicht wurden. Zu Humboldts 250. Geburtstag im Jahr 2019 werden sie in der «Berner Ausgabe» seiner Sämtlichen Schriften beim dtv erstmals gesammelt herausgegeben. Dies als Ergebnis eines Projekts an der Universität Bern, das vom Schweizerischen Nationalfonds SNF gefördert wird. So entsteht Humboldts «anderer Kosmos»: die ganze Welt in tausend Schriften.

Gerade seine kleineren Schriften zeigen den Kosmopoliten als einen ungewöhnlich vielseitigen Autor. Sie erschienen in mehr als einem Dutzend Sprachen, an 250 Orten, auf allen Kontinenten. Humboldt war der internationalste Publizist seiner Zeit. Er bedient sich zahlreicher Gattungen – von der Reisereportage über den Forschungsbericht bis zum politischen Beitrag. Der Verfasser des Kosmos war ein Meister der kleinen Formen. 

Wissenschaften zusammendenken

In seinen Schriften können wir nachvollziehen, wie Humboldt unterschiedliche Wissenschaften zusammenführte. Hatte er in seinen frühen Jahren zunächst eher noch disziplinär geforscht, etwa zur Geologie, zur Botanik oder zur Chemie, so konnte er die fremde Welt der Tropen und außereuropäischer Kulturen nur bewältigen, indem er sich nicht mehr an Fächergrenzen, sondern an Fragestellungen orientierte. 

In seiner «Geographie der Pflanzen in den Tropen-Ländern; ein Naturgemälde der Anden» stellte Alexander von Humboldt ein ganzes Ökosystem dar. (Aus: «Ideen zu einer Geographie der Pflanzen», Tübingen/Paris 1807.)

Auf diese Weise erforschte er die Zeugnisse vorspanischer Zivilisationen, die Zusammenhänge des andinen Ökosystems oder die Faktoren eines menschengemachten Klimawandels. Diese problemorientierte, inter- und transdisziplinäre Forschungspraxis ist heute in vielen Feldern anregend. In der Vorlesungsreihe des Collegium generale Alexander von Humboldt – Wissenschaften zusammendenken nehmen Expertinnen und Experten aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften Humboldts Fragen, Ansätze und Ideen auf, um sie aktuell in unserer heutigen Welt weiterzudenken.

Dabei begeben sie sich mit Humboldt nicht nur auf eine gedankliche Reise um die Welt und durch die Felder verschiedener Disziplinen, sondern auch auf eine tatsächliche Reise in Bern durch mehrere Institutionen: Im Alpinen Museum vergleichen wir die Anden mit den Alpen, im Naturhistorischen Museum erkunden wir Humboldts Tierleben, und im Botanischen Garten erfahren wir, wie der Erfinder der Pflanzengeographie ein ökologisches Denken entwickelte. 

Auf seinen Reisen fertigte Alexander von Humboldt zahlreiche Zeichnungen der Flora und Fauna an, hier ein Stich des Andenkondors aus seinem Recueil d’observations de zoologie et d’anatomie comparée (Paris 1811–1833, Tafel 8).
Auf seinen Reisen fertigte Alexander von Humboldt zahlreiche Zeichnungen der Flora und Fauna an, hier ein Stich des Andenkondors aus seinem «Recueil d’observations de zoologie et d’anatomie comparée» (Paris 1811–1833, Tafel 8).

Drachenbaum und Brüllaffe

Im Anschluss an die Vorlesungsreihe eröffnet im Botanischen Garten Bern (BOGA) die Ausstellung «Botanik in Bewegung – Humboldts Expeditionen». Sie ist eine Gemeinschaftsarbeit des Instituts für Pflanzenwissenschaften und des Instituts für Germanistik der Universität Bern. Die Besucherinnen und Besucher werden hier die Möglichkeit haben, Humboldts Forschungsreisen entlang einer Reihe von Stationen nachzuvollziehen – in freier Natur, im Gewächshaus und in der Orangerie: von seiner Jugend in Berlin über Paris zum Drachenbaum auf Teneriffa, nach Cumaná im heutigen Venezuela, in den Regenwald und über die Anden, zurück nach Europa und durch die Steppen Asiens.

Parallel zu diesem botanischen Entdecker-Parcours an der Aare zeigt das Naturhistorische Museum Bern eine zoologische Satelliten-Ausstellung über «Humboldts Affen»: Zitate und Bilder in Verbindung mit Objekten aus der Sammlung des Hauses. Die Zentralbibliothek präsentiert in ihrem Gewölbekeller eine Auswahl der prächtigen Erstausgaben von Humboldts Werken, während im Generationenhaus eine Installation zur Geschichte der Botanik in vier Generationen zu sehen sein wird, die seinen Beitrag in einen historischen Zusammenhang setzt: Albrecht von Haller – Carl von Linné – Alexander von Humboldt – Charles Darwin. 

Im Rahmen der Vorlesungsreihe des Collegium generale können wir Humboldt sogar im Spielfilm erleben, dargestellt von Jan Josef Liefers, in Rainer Simons Die Besteigung des Chimborazo (1989). Der Film war eine der letzten Produktionen der DDR, er kam nur wenige Wochen vor dem Mauerfall in die Kinos – der junge Alexander von Humboldt fordert hier Reisefreiheit.

Das Collegium generale

Das Collegium generale fördert den fächerübergreifenden Dialog und die Vernetzung innerhalb der Universität durch Veranstaltungen für Lehrende, Nachwuchsforschende und Studierende aller Fakultäten. Die Veranstaltungen stehen auch einem breiteren Publikum offen, der Eintritt ist frei.

Zum Autor

Oliver Lubrich ist ordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Bern und Leiter des Editionsprojekts «Alexander von Humboldt, Sämtliche Schriften (Aufsätze, Artikel, Essays). Berner Ausgabe».

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