Auf Augenhöhe mit dem Bundesrat

Am Donnerstag, 9. November 2017, beehrte Alain Berset, Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI), die Universität Bern. Er trat in der Vorlesung «Politisches System der Schweiz I» von Prof. Adrian Vatter auf. Für «uniaktuell» berichten zwei Studentinnen von ihren persönlichen Eindrücken.

Ladina Triaca: Bundesrätlicher Blick auf die direkte Demokratie

Er komme viel zu selten an die Universität, meinte Bundesrat Alain Berset zu Beginn seines Referates zu den rund 250 anwesenden Studierenden. In der Tat! Denn was der Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern in den darauffolgenden 90 Minuten zu berichten hatte, war äusserst spannend und wurde dem Ziel der Veranstaltung – eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen – vollkommen gerecht. Besonders gut gefallen hat mir Bersets Würdigung der direkten Demokratie. Dabei sind mir drei Zitate besonders hängen geblieben. 

Grosses Publikum beim Besuch von Bundesrat Alain Berset im Hochschulzentrum vonRoll. Alle Bilder: © Universität Bern
Grosses Publikum beim Besuch von Bundesrat Alain Berset im Hochschulzentrum vonRoll. Alle Bilder: © Universität Bern

«Direkte Demokratie ist nicht bequem»

Es gibt wohl kaum jemanden, bei dem diese Aussage so authentisch klingt, wie bei Alain Berset. Der 45-Jährige musste diesen Herbst bei der Abstimmung über die AHV-Reform schmerzlich erfahren, was es heisst, an der Urne zu verlieren. Und dennoch gab sich Berset vor uns Studierenden betont gelassen: Auch wenn die Vorstellungen über eine neue Reform der Altersvorsorge derzeit weit auseinandergingen und «Einigkeit über nichts» herrsche, so sei er doch zuversichtlich. Schliesslich zwinge uns die direkte Demokratie immer wieder dazu, mit unseren Gegnern zusammenzuarbeiten und Lösungen zu finden.

«Direkte Demokratie ist eine Debatte auf Augenhöhe, die nie aufhört»

Berset, der sich immer als Vollzeit-Politiker verstand, würdigte in seinem Referat auch die ausgeprägte Diskussionskultur, die durch die direkte Demokratie erzeugt werde. So hätten in der Schweiz alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, sich einzubringen und an der Debatte teilzunehmen. An dieser Stelle hätte ich mir allenfalls einen etwas kritischeren Alain Berset gewünscht, der auch auf mögliche Mängel der direkten Demokratie eingeht oder darauf hinweist, dass wir auf nationaler Ebene beispielsweise kein Ausländerstimmrecht kennen und deshalb nicht alle Menschen gleichermassen mitreden und mitentscheiden können.

EDI-Vorsteher Alain Berset bei seinen Ausführungen zur direkten Demokratie.
EDI-Vorsteher Alain Berset bei seinen Ausführungen zur direkten Demokratie.

«Die direkte Demokratie zwingt uns, in Bewegung zu bleiben»

Auch dieses Zitat verkörperte wohl kaum jemand im Saal so gut wie Bundesrat Alain Berset, der darauf bestand, während der Fragerunde vom Stehpult wegzukommen und so möglichst alle Studierenden im Blick zu behalten. Bewegung sei auch für eine Gesellschaft wichtig, meinte der Freiburger. Nichts sei so schlimm wie Stillstand. Dennoch würde allzu oft der Fehlschluss gezogen, Stillstand bedeute Stabilität. Auch für unsere Gesellschaft gelte, was Albert Einstein einst gesagt haben soll: «Das Leben ist wie ein Fahrrad, man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.»

Nahe an den Studierenden: Alain Berset während der Fragerunde.
Nahe an den Studierenden: Alain Berset während der Fragerunde.

Rahel Freiburghaus: Das Lehrbuchwissen einem Praxistest unterziehen

Dass sich ein amtierendes Mitglied der Landesregierung einen ganzen Vormittag Zeit nehme, um seine «Praxissicht» mit den Studierenden zu teilen, sei – wie Prof. Adrian Vatter eingangs feststellte – «alles andere als selbstverständlich». Umso grösser unser Vorrecht, für einmal nicht nur über, sondern gar mit einem Vertreter der Regierung sprechen zu dürfen. In diesem Sinne unterzog der bundesrätliche Besuch unser Lehrbuchwissen einem Praxistest. Rückblickend möchte ich daher meine persönlichen Eindrücke vom Anlass im Wechselspiel von Theorie und Praxis schildern.

Prof. Adrian Vatter stellte Bundesrat Alain Berset zu Beginn vor.
Prof. Adrian Vatter stellte Bundesrat Alain Berset zu Beginn vor.

Wo sich Theorie und Praxis (nicht) finden

Eintracht zwischen Theorie und Praxis bestand zwischen seinen Einschätzungen, wonach sich die Regierung durch blosses Aufstocken der Anzahl Bundesrätinnen und Bundesräte wohl nicht sinnvoll reformieren liesse, und diesbezüglichen Forschungsbefunden. So geht die «Schwellentheorie» davon aus, dass ein kollegiales Gremium mit mehr als sieben Mitgliedern zwingend hierarchisiert werden müsse. Dies deckt sich mit Bundesrat Bersets Erfahrungen: Zweifelsohne teilten sich neun Personen «die Arbeit grundsätzlich besser». Für eine Kollegialbehörde, in der die «Diskussionsdynamik zu viert oder zu fünft» unterschiedlich verlaufe, gelte dies jedoch nicht. Berset verglich denn auch die seiner Meinung nach sehr konstruktive, unterdessen dreisprachige Debattenkultur im Bundesrat mit der Arbeitsweise in den 13-köpfigen Parlamentskommissionen, denen er als Freiburger Ständerat (2003–2011) angehörte. 

Auch nach der Veranstaltung pflegte der Bundesrat die «Debattenkultur» und nahm sich Zeit für die Studierenden.

Hingegen offenbarte sich in der Diskussion um die Stellung des Parlaments eine Zwietracht zwischen Theorie und Praxis: In der Literatur wird die Bundesversammlung als eine im Vergleich zum Ausland eher schwache, ressourcenarme Volksvertretung beschrieben, der aufgrund des lange Zeit prägenden Milizgedankens wiederholt die Hände gebunden waren. «Wir leben in einem Land, in dem das Parlament sehr grosse Kräfte hat», führte demgegenüber Bundesrat Berset aus. Offensichtlich reiben sich in diesem Punkt die beiden Perspektiven: Auf der einen Seite ist es der Anspruch der Politikwissenschaft, die Stärke einer Institution mit objektiven Kriterien zu messen. Auf der anderen Seite steht die Wahrnehmung eines Bundesrates. Berset berichtete von der Schwierigkeit, ein Bundesratsgeschäft zu vertreten, wenn zwischen der Regierung und dem Parlament nicht ein «minimaler Konsens» bestehe.

Vom Wert der Rückkopplungsschleife

Meiner Meinung nach diente der Austausch mit Bundesrat Berset also gleichsam dazu, die Theorie durch dessen Praxissicht zu bestätigen und zu bereichern. Ebendiese Rückkopplungsschleife unterstützt auch die von Rektor Christian Leumann bei der Begrüssung umrissene Aufgabe der Universitäten, «Wissen über den politischen Prozess als solchen» zu generieren, das wiederum zurückwirken könne.

Prof. Adrian Vatter, Bundesrat Alain Berset und Rektor Christian Leumann, der den Bundesrat in einer kurzen Begrüssungsrede willkommen hiess.
Prof. Adrian Vatter, Bundesrat Alain Berset und Rektor Christian Leumann, der den Bundesrat in einer kurzen Begrüssungsrede willkommen hiess.

ZU DEN AUTORINNEN

Ladina Triaca (*1992) und Rahel Freiburghaus (*1994) studieren beide im vierten Master-Semester Schweizer und Vergleichende Politik und arbeiten als Hilfsassistentinnen von Prof. Dr. Adrian Vatter am Lehrstuhl für Schweizer Politik an der Universität Bern. Kontakte:  ladina.triaca@ipw.unibe.chrahel.freiburghaus@ipw.unibe.ch

DIE VORLESUNG «POLITISCHES SYSTEM DER SCHWEIZ I»

Im Mittelpunkt der jeweils im Herbstsemester stattfindenden Vorlesung stehen die politischen Akteure und Institutionen auf Bundes- und Kantonsebene, die politischen Entscheidungsprozesse auf den verschiedenen Staatsebenen sowie die vertiefte Betrachtung ausgewählter Politikfelder. Einmal pro Vorlesungszyklus lädt Prof. Dr. Adrian Vatter vom Institut für Politikwissenschaft eine Vertreterin oder ein Vertreter des politischen Systems für ein Referat mit Diskussion ein.

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